Harry Dresden 08 - Schuldig
verliebt?“
Lea lächelte. „Liebe“, murmelte sie. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber einfache Begierden. Oh ja. Du unterschätzt die einfachen Dinge, mein Patenkind.“ Ihre Augen funkelten. „Speise und Wärme. Berührungen. Gesäubert, gepflegt und begehrt zu werden. Immer wieder. Ein beständiger Tanz von Todeskampf und Ekstase. Unter dieser Last zerbricht der Verstand eines Sterblichen. Nicht sofort, sondern langsam. Wie der stete Tropfen den Stein höhlt.“ Ihre wie im Wahn funkelnden Augen richteten sich auf mich, und in ihrer Stimme hörte ich eine gewisse Warnung. „Es handelt sich um eine kriechende Verführung. Eine Veränderung in winzigen Schritten.“
Für einen Augenblick juckte Lasciels Zeichen in meiner linken Handfläche wie verrückt.
„Ja“, flüsterte Lea. „Weißt du, Mab ist unermüdlich. Sie hat alle Zeit der Welt, und wenn die letzten Schutzwälle um seinen Verstand gefallen sind, wenn er sich darauf freut, wieder an den Baum zurückzukehren, dann wird sie ihn liquidieren und wegwerfen. Er bleibt nur am Leben, solange er sich wehrt.“ Kurz schloss sie die Augen. „Diese Lehre solltest du nie vergessen, mein Kind.“
„Lea“, sagte ich. „Was ist mit dir geschehen? Wie lange bist du schon eine Sidhe am Stiel?“
Ihre Kraft schien langsam zu verebben, und plötzlich machte sie einen erschöpften Eindruck. „Meine Macht ließ mich zu anmaßend werden. Ich war der Meinung, ich könne das, was uns belauert, unterwerfen. Wie töricht. Königin Mab hat mir vor Augen geführt, wie sehr ich mich doch geirrt habe.“
„Sie hatte dich für über ein Jahr in deinem ganz persönlichen Eisberg eingekerkert?“ Ich schüttelte den Kopf. „Patentante, du siehst aus, als wärst du vom Baum des Wahnsinns gepurzelt und auf dem Weg nach unten gegen jeden Ast gedonnert.“
Ihre Augen öffneten sich erneut, funkelnd und verunsichernd wie die Hölle, und dann lachte sie. Es war ein leiser, verhaltener Laut – und er klang nicht im Mindesten wie das Lachen der tödlichen Sidhehexe, die ich gekannt hatte, bevor ich noch Auto fahren durfte.
„Baum des Wahnsinns“, murmelte sie und schloss wieder die Augen. „Ja.“
Ich hörte schwere, stampfende Schritte auf der Treppe, und wenig später kam Thomas wie von der Tarantel gestochen auf die Turmkrone gerannt. In seiner Hand blitzte noch der mit Feenblut befleckte Säbel. „Harry!“
„Hier“, rief ich und winkte mit der Hand. Er warf einen Blick zu Charity und Molly und trabte dann zu mir.
Mein Magen krampfte sich vor Sorge zusammen. „Wo ist Murphy?“
„Entspann dich“, beruhigte er mich. „Sie ist unten und bewacht das Tor. Ist das Mädchen okay?“
Ich senkte die Stimme. „Sie atmet, aber was mir größere Sorgen bereitet, ist, wieviel Schaden ihr Verstand einstecken musste. Aber wenigstens weint sie. Das ist ein gutes Zeichen. Was ist?“
„Wir müssen verschwinden“, sagte Thomas. „Jetzt.“
„Warum?“
„Irgendetwas ist im Anmarsch.“
„Das ist doch nicht unüblich“, sagte ich. „Kannst du etwas genauer werden?“
Er knirschte mit den Zähnen und schüttelte den Kopf. „Seit letztem Jahr … seit dem Erlkönig … hatte ich immer wieder … sagen wir, Eingebungen. Vielleicht auch nur Gefühle. Ich kann jetzt stärker empfinden, wenn etwas in der Luft liegt. Ich glaube, die Wilde Jagd ist auf dem Weg hierher. Ich glaube, eine ganze Menge von Dingen ist auf dem Weg hierher.“
Kaum hatte er ausgeredet, hörte ich, wie sich ein langer, trauervoller und irgendwie hungriger Hornstoß in das ferne Tosen des Windes mischte.
Ich trat auf die Fassung des Brunnens und stierte in die mondhelle Nacht hinaus. Auch wenn ich nichts erkennen konnte, sah ich doch für einen Augenblick, wie sich in weiter Ferne das Mondlicht auf dem seltsamen Metall spiegelte, aus dem die Feen ihre Waffen und Rüstungen fertigen.
Ein weiteres Horn klang durch die Nacht, ein dumpf dröhnender Basston – nur dass das zweite Horn aus genau der entgegengesetzten Richtung wie das erste ertönte. In den nächsten Sekunden fielen weitere Hörner ein, dann Trommeln, und schließlich schwoll eine wahre Woge an mächtigen Schreien und unheimlichem Geheul um uns herum an. Ein schneebedeckter Gipfel in den Bergen östlich von Arctis Tor wurde plötzlich von einer dunklen Wolke verschlungen, die alles unter sich verbarg. Ich sah mich eilig um, nur um festzustellen, dass auch weitere Bergspitzen nun unter einer Decke aus Schatten lagen. Die
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