Harry Dresden 09: Weiße Nächte
klingelte das Münztelefon.
Ich hüpfte auf, so weit mir ein Aufhüpfen möglich war und hob den Hörer ab. „Dresden.“
John Marcones Stimme war so kühl und eloquent wie immer. „Sie sind wohl der Meinung, ich wäre völlig wahnsinnig.“
„Haben Sie die Dokumente gelesen, die ich Ihnen gefaxt habe?“
„Genauso wie mein Berater bei Monoc“, erwiderte Marcone. „Aber das hat noch lange nicht zu bedeuten …“
Ich unterbrach ihn, einzig um herauszufinden, wie sehr ich ihn auf die Palme treiben konnte. „Sehen Sie mal, wir beide wissen, dass Sie es tun werden, und ich bin es leid, um den heißen Brei herumzuschleichen“, sagte ich ihm ins Gesicht. „Was wollen Sie?“
Einen Augenblick herrschte ganz dezent verärgertes Schweigen. Jemandem wie Marcone halbstark zu kommen ist gut für meine Moral.
„Sagen Sie ,bitte ‘ “, erwiderte Marcone.
Ich blinzelte. „Was?“
„Sagen Sie ,bitte ‘ , Dresden“, entgegnete er mit ruhiger Stimme. „Bitten Sie mich.“
Ich verdrehte die Augen. „Das darf ja wohl nicht wahr sein.“
„Wir beide wissen, dass Sie mich brauchen, Dresden, und ich bin es ebenfalls leid, um den heißen Brei zu schleichen.“ Ich konnte das Haifischgrinsen auf seinem Gesicht förmlich sehen. „Sagen Sie ,bitte ‘ .“
Ich kochte eine räudige Minute innerlich vor mich hin, bis ich bemerkte, dass das wahrscheinlich gut für Marcones Moral war, und das konnte ich nicht zulassen.
„Okay“, fauchte ich. „Bitte.“
„Bitte, bitte“, forderte er mich auf.
Die Gedanken eines pyromanischen Verrückten fluteten durch meinen Frontallappen, aber ich atmete tief ein, schoss meinen Stolz mit einer Elefantenberuhigungsspritze nieder und sagte: „Bitte, bitte.“
„Oooch büüütte, büüütte, büüütte?“
„Ficken Sie sich ins Knie!“, keifte ich und legte auf.
Ich trat gegen den Getränkeautomaten und stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus. Marcone lachte höchstwahrscheinlich genau jetzt sein leises, freudloses Lachen. Arsch. Ich ging wieder zu Murphy.
Sie sah mich an. Ich schwieg. Sie musterte mich mit gerunzelter Stirn, nickte dann aber und nahm unsere Unterhaltung wieder auf, wo wir sie unterbrochen hatten. „Mal im Ernst. Was findest du denn so beruhigend daran, dass sie jetzt ein paar Tage flachliegt?“
„Sie wird in das, was jetzt kommt, nicht hineingezogen“, antwortete ich.
Murphy schwieg eine Weile. „Du glaubst, die Malvoras wollen die Macht am Weißen Hof an sich reißen.“
„Ja. Sollte irgendjemand auf die Idee kommen, sie darauf hinzuweisen, was mit dem Skavis passiert ist, werden sie behaupten, er habe versucht, ihnen die Show zu stehlen und ihre eigene Operation sei bereits abgeschlossen.“
„Mit anderen Worten“, meinte Murphy nach einer Minute, „sie haben gewonnen. Wir haben uns den Arsch aufgerissen, um den Skavis aufzuhalten, damit so etwas nie wieder geschieht, doch es passiert dennoch.“
„Ganz schön niederschmetternd, nicht wahr?“
„Was bedeutet das?“, fragte Murphy. „Global gesehen?“
Ich zuckte die Achseln. „Wenn sie gewinnen, werden sie den Weißen Hof aus den Friedensgesprächen abziehen. Sie werden wieder die Roten unterstützen. Sie werden die Jagdsaison auf Leute wie Anna eröffnen, und wir werden uns in den nächsten Jahren mit zehntausenden Vermissten und Selbstmördern herumplagen müssen.“
„Von denen die meisten den sterblichen Autoritäten nicht mal auffallen werden“, flüsterte Murphy. „So viele Menschen verschwinden schon jetzt. Was sind da ein paar tausend mehr?“
„Eine Statistik“, sagte ich.
Sie schwieg eine ganze Minute lang. „Was dann?“
„Wenn sich die Vampire geschickt genug anstellen, wird der Krieg noch härter. Der Rat wird seine Ressourcen noch weiträumiger verteilen müssen, als das jetzt schon der Fall ist. Wenn sich nichts ändert ...“ Ich zuckte die Achseln. „Verlieren wir. Jetzt, in ein paar Jahrzehnten, irgendwann. Verlieren wir.“
„Was dann?“, fragte Murphy. „Wenn der Rat den Krieg verliert?“
„Dann … werden die Vampire tun, was auch immer sie wollen“, sagte ich. „Sie werden die Macht an sich reißen. Die Roten werden sich alle Gebiete des Erdballes greifen, wo jetzt schon Chaos und Korruption und Blut und Leid herrschen. Sie werden sich von Mittelamerika nach Afrika, in den Mittleren Osten und an all die Orte ausbreiten, die sich von Stalins Wüten noch nicht erholt haben, und an die miesen Flecken Asiens. Sie werden expandieren, und
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