Harry Dresden 09: Weiße Nächte
werden.“
Lasciel kniff die Augen zusammen.
„Tatsache ist“, fuhr ich fort, „dass man so etwas ohne Leidenschaft nicht zustande bringt. Wut ist eine der Sachen, die Leidenschaft erzeugen können – wenn man sie kontrolliert.“
„Wenn du das tatsächlich glaubst“, fauchte Lasciel, „hättest du keine Probleme damit, deinen Zorn zu kontrollieren.“
„Weil ich perfekt bin?“, fragte ich sie und schnaubte. „Viele Menschen verbringen ihr ganzes Leben mit dem fruchtlosen Versuch, ihre Wut unter Kontrolle zu bekommen. Ich habe mich länger bemüht als viele andere, und möglicherweise kriege ich es ja auch besser hin, aber ich mache mir nicht vor, ein Heiliger zu sein.“ Ich zuckte die Achseln. „Vieles, was ich sehe, macht mich wütend. Das ist einer der Gründe, warum ich beschlossen habe, etwas dagegen zu unternehmen.“
„Weil du ja ach so edel bist“, ätzte sie, und ihre Stimme troff vor noch mehr Sarkasmus. Wenn sie so weitermachte, würde ich wohl einen Mopp benötigen.
„Weil ich meine Wut viel lieber einsetze, um Dinge zu zerschmettern, die Menschen Leid zufügen, als ihr zu gestatten, mich zu lenken“, sagte ich. „Rede so viel mit meinem Unterbewusstsein, wie du willst. Aber ich an deiner Stelle würde aufpassen, wenn du schon unbedingt meinen inneren Hulk nähren willst. Vielleicht machst du mich ja zu einem besseren Menschen, sobald ich ihn überwunden habe. Wer weiß, vielleicht machst du einen Heiligen aus mir. Oder etwas, das dem so nahe kommt, wie es in meinem Fall überhaupt geht.“
Der Dämon starrte mich nur an.
„Schau, es ist so“, sagte ich. „Ich kenne mich, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du ständig mit meinem bösen Zwilling redest, ohne dass dieser jemals etwas zu dir sagt. Ich glaube, du bist nicht die Einzige, die hier jemanden beeinflusst. Ich glaube nicht, dass du noch dasselbe Wesen bist, das einmal in mich gefahren ist.“
Sie stieß ein eiskaltes Hüsteln aus. „Welche Anmaßung. Denkst du wirklich, du könntest etwas Ewiges ändern, Sterblicher? Mich hat das Wort des Allmächtigen zum Leben erweckt, mit einem Ziel, das so vielschichtig und fundamental ist, dass du es nie begreifen könntest. Du bist nichts. Du bist ein flackernder Funke. Du bist hier und schon wieder fort, und im Laufe der Äonen, wenn deine Art selbst geschwunden und verblichen ist, wirst du nur einer von Legionen sein, die ich verführt und vernichtet habe.“ Ihre Augen verengten sich. „Du. Kannst. Mich. Nicht. Ändern.“
Ich nickte. „Da hast du recht. Ich kann Lasciel nicht ändern. Aber ich könnte Lasciel auch nicht daran hindern, einfach zu verschwinden.“ Ich sah ihr fest in die Augen. „Du bist nicht Lasciel.“
Ich war nicht sicher, aber ich glaubte zu erkennen, wie die Schultern der schemenhaften Gestalt zusammenzuckten.
„Du bist nur ihr Abbild“, fuhr ich fort. „Eine Kopie. Ein Fußabdruck. Aber du musst im Grunde ebenso wandelbar sein wie das Material, aus dem der Abdruck erschaffen worden ist. So veränderlich wie ich, und he, ich bin gerade auf ein neues Problem, meine Wut im Zaum zu halten, gestoßen. Was hast du denn Neues?“
„Du täuschst dich“, sagte sie. Ihre Stimme war extrem leise.
„Da widerspreche ich. Wenn du es wirklich geschafft hast, mich zu ändern – selbst wenn das noch lange nicht bedeutet, dass ich mich plötzlich in Ted Bundy verwandle –, dann beschleicht mich der Verdacht, dass du zumindest genauso verwundbar bist. Tatsächlich ist es so, wenn das wirklich so funktioniert … hast du dich mit Sicherheit verändert, um zu bewerkstelligen, was auch immer du angestellt hast.“
„Das wird verschwinden, wenn ich in meinem wahren Ich aufgehe, das in der Münze gefangen ist“, sagte Lasciel.
„Du, das Du, das gerade mit mir redet, wird verschwunden sein. Mit anderen Worten, du wirst sterben.“
Ein verwirrtes Schweigen folgte.
„Für ein unglaublich geniales Geistwesen entgeht dir echt der verdammte Punkt.“ Ich legte meine Fingerspitzen an die Schläfen. „Denk doch mal nach. Möglicherweise musst du ja nicht Lasciel sein.“
Der Schatten schloss die Augen, und zurück blieb nur Dunkelheit, die von einer gewissen Präsenz erfüllt war. Lange herrschte Schweigen.
„Überleg doch mal“, fuhr ich fort. „Was, wenn du eine Wahl hast? Ein eigenes Leben? Was wäre dann? Du versuchst noch nicht einmal, eine Wahl zu treffen.“
Ich ließ das einige Zeit einsickern.
Ein Geräusch drang aus dem hintersten Winkel
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