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Harry Dresden 09: Weiße Nächte

Harry Dresden 09: Weiße Nächte

Titel: Harry Dresden 09: Weiße Nächte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim Butcher
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würde. Aber das tat sie nicht. Sie musste sich entscheiden, was am wahrscheinlichsten kommen würde, und das war in diesem besonderen Fall jetzt wirklich nicht so schwer.“
    „Deshalb erschien sie so unkonzentriert“, meinte Murphy grübelnd.
    „Ja. Sie hat gleichzeitig versucht, am Ball zu bleiben, was in dem Moment passiert ist und was wahrscheinlich passieren würde, während sie ausschließen musste, was wohl kaum geschehen würde, und all das in einem Zeitfenster von einigen Sekunden.“ Ich schüttelte den Kopf. „Es ist noch schlimmer, wenn sie weiter als ein oder zwei Sekunden in die Zukunft sehen können.“
    Murphy sah verwirrt aus der Wäsche. „Warum?“
    „Weil immer mehr Möglichkeiten bestehen, je weiter man sehen kann“, erläuterte ich. „Stell dir mal ein Schachspiel vor. Ein Anfänger ist schon ganz schön gut, wenn er vier oder fünf Spielzüge vorhersagen kann. Zehn Züge enthalten eine exponentiell größere Anzahl an verschiedenen Konstellationen, die das Brett annehmen kann. Schachgroßmeister können sogar noch weiter sehen – und wenn man mit Computern anfängt, erhöht sich die Anzahl noch weiter. Es ist schwer, sich auch nur die Dimensionen vorzustellen.“
    „Dabei ist Schach ein einfaches, geschlossenes Umfeld“, fuhr Murphy nickend fort. „Es gibt in der echten Welt noch viel mehr Möglichkeiten.“
    „Das größte Spiel.“ Ich schüttelte den Kopf. „Das ist ein verdammt gefährliches Talent. Als Nebeneffekt wird man auf die eine oder andere Weise instabil. Ärzte diagnostizieren bei Leuten wie Abby meist Epilepsie, Alzheimer oder eine ganze Reihe anderer Persönlichkeitsstörungen. Ich wette fünf Kröten, dass das medizinische Armband an ihrem Handgelenk bestätigt, dass sie Epileptikerin ist – und dass der Hund es fühlt, wenn ein Anfall bevorsteht und sie dann warnt.“
    „Ich habe das Armband nicht gesehen“, gestand Murphy. „Keine Wette.“
    Während wir da standen und uns fünf Minuten ruhig unterhielten, fand in der Wohnung eine lebhafte Diskussion statt. Angespannte Stimmen drangen gedämpft durch die Tür, ehe eine Stimme, die lauter war als die anderen, sie zum Schweigen brachte. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür erneut.
    Die erste Frau, die wir dabei beobachtet hatten, wie sie das Haus betrat, stand mir gegenüber. Sie hatte dunkle Haut, dunkle Augen und kurzes, glattes, dunkles Haar, das mich in der Vermutung bestärkte, dass sie in ihrer Familie wohl vor einigen Generationen indianische Vorfahren gehabt haben musste. Sie war vielleicht eins sechzig und Ende dreißig. Sie hatte ein ernstes Gesicht mit leichten Denkerfalten zwischen den Brauen, und so, wie sie da mit festem Stand die Tür blockierte, beschlich mich das Gefühl, dass sie eine wahre Bulldogge sein konnte, wenn es notwendig war.
    „Niemand hier hat eines der Gesetze gebrochen, Wächter“, sagte sie mit fester, leiser Stimme.
    „Mensch, da bin ich erleichtert“, sagte ich. „Anna Ash?“
    Ihre Augen verengten sich, und sie nickte.
    „Harry Dresden“, sagte ich.
    Sie schürzte die Lippen und warf mir einen abschätzenden Blick zu. „Machen Sie Witze? Ich weiß, wer Sie sind.“
    „Ich pflege nicht anzunehmen, dass jeder, der mir begegnet, weiß, wer ich bin“, sagte ich und ließ eine Andeutung von Abbitte in meinen Tonfall mit einfließen. „Das ist Karrin Murphy. Chicago PD.“
    Anna nickte Murphy zu und bat mit sachlicher, höflicher Stimme: „Dürfte ich Ihre Polizeimarke sehen, Miss Murphy?“
    Murphy hatte die Marke in ihrer Lederhülle bereits in der Hand und reichte sie Anna. Ihr Passfoto war auf der anderen Seite unter einer durchsichtigen Plastikfolie zu sehen.
    Anna musterte Marke und Foto, das sie mit Murphy verglich. Dann gab sie beides zaudernd zurück und wandte sich wieder an mich. „Was wollen Sie?“
    „Reden“, entgegnete ich.
    „Worüber?“
    „Den Ordo Lebes“, sagte ich, „und das, was in letzter Zeit mehreren Magiebegabten zugestoßen ist.“
    Ihre Stimme blieb oberflächlich höflich, doch ich konnte den bitteren Unterton nur zu gut heraushören. „Ich bin sicher, da wissen Sie viel mehr als wir.“
    „Nicht wirklich“, gestand ich, „und genau das versuche ich, ins Lot zu rücken.“
    Sie schüttelte den Kopf, und ihr Gesicht spiegelte ihre Zweifel klar wider. „Ich bin keine Vollidiotin. Die Wächter haben doch auf alles ein Auge. Das weiß doch jeder.“
    Ich seufzte. „Ja, aber ich habe heute Morgen vergessen, meine

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