Harry Dresden 09: Weiße Nächte
wobei ich die Stirn in tiefe Falten legte. Ich musste ein paar Mal in meinem Kalender nachschlagen. Dann holte ich mir einen Notizblock und kritzelte Dinge darauf, die mir auffielen.
„Nun gut“, schnaufte ich, als ich mich erneut auf meine Couch sinken ließ. „Thomas ist mehreren Personen gefolgt. Den toten Frauen und mindestens einem Duzend weiterer. In verschiedenen Stadtteilen. Er hat sie rund um die Uhr überwacht. Ich denke, er hat ein oder zwei Privatdetektive angeheuert, um ihm einen Teil der Beschattung abzunehmen – die wiederum eifrig notiert haben, wo die Damen überall hingegangen sind und ob sie eine gewisse Routine an den Tag legten.“ Ich hob den Notizblock. „Das hier sind die Namen der Personen, denen er …“ Ich zuckte mit den Schultern. „… in Ermangelung eines besseren Wortes: hinterher gepirscht ist. Ich tippe mal, dass die weiteren Namen auf seiner Liste mit den Vermissten übereinstimmen, von denen uns die Damen des Ordo Lebes erzählt haben.“
„Glaubst du, Thomas hat sie sich als Beute erwählt?“, fragte Lasciel.
Ich war drauf und dran, das entschieden abzustreiten, doch ich hielt inne.
Besonnenheit. Verstand. Vernunftmäßiges Denken.
„Möglich“, gestand ich mit verhaltener Stimme. „Aber mein Instinkt sagt mir, er steckt nicht dahinter.“
„Warum nicht?“, hakte Lasciel nach. „Worauf fußt deine Annahme?“
„Auf Thomas“, antwortete ich. „Er war es nicht. Mord und Kidnapping im großen Stil? Niemals. Klar ist er auf dem Inkubus-Trip, doch hätte er nie mehr Schaden angerichtet als nötig. Das ist nicht seine Art.“
„Nicht, wenn er die Wahl hat“, sagte Lasciel. „Denn ich denke, es ist meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen …“
Ich winkte ab. „Ich weiß. Vielleicht ist seine Schwester in den Fall verstrickt. Sie hat schon Lord Raith den freien Willen genommen. Nicht auszuschließen, dass sie auch in Thomas’ Kopf herumgepfuscht hat, und wenn nicht Lara, dann gibt es noch viele andere, die so etwas drauf hätten. Thomas könnte all das gegen seinen Willen tun. Hölle, vielleicht erinnert er sich nicht mal an das, was er angestellt hat.“
„Er könnte auch aus eigenem Antrieb handeln. Er hat noch eine weitere Schwäche“, sagte Lasciel.
„Hä?“
„Lara Raith hat Justine.“
Das war ein Gesichtspunkt, der mir entgangen war. Justine war für meinen Bruder … nun ja, ich hatte keine Ahnung, ob ein Wort für das existierte, was sie für meinen Bruder darstellte. Doch er liebte sie, und sie ihn. Es war nicht ihre Schuld, dass bei ihr eine Schraube locker und dass er eine Lebenskraft verzehrende Kreatur der Nacht war.
In Notsituationen hatten sie schon mehrmals willentlich ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um den anderen zu retten, und dieser Liebesbeweis hatte Justine für meinen Bruder zur tödlichen Gefahr werden lassen. Sie war wie Gift für ihn. Liebe bereitete dem Weißen Hof unsägliche Schmerzen, wie Weihwasser den anderen Vampirarten. Sobald wahre, reine Liebe jemanden berührte, konnte sich kein Vampir des Weißen Hofes mehr von ihm nähren – was es Thomas im Großen und Ganzen unmöglich gemacht hatte, sich in Justines Nähe aufzuhalten.
Höchstwahrscheinlich war es auch besser so. Das letzte Mal, als beide zusammen gewesen waren, hätte es Justine fast das Leben gekostet. Als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, war sie eine entkräftete, zerbrechliche, weißhaarige Kreatur gewesen, kaum in der Lage, Worte aneinanderzureihen. Es zerriss Thomas innerlich, zu sehen, was er ihr angetan hatte. Meines Wissens hatte er sich noch nicht einmal bemüht, wieder in ihr Leben zu treten. Ich konnte ihm daraus keinen Vorwurf machen.
Lara hatte Justine nun in ihrer Obhut, auch wenn sie sich ebenso wenig wie Thomas an ihr laben konnte.
Aber wenn es hart auf hart kam, konnte Lara ihr die Kehle durchschneiden.
Thomas war einiger extrem hässlicher Dinge fähig, wenn es darum ging, Justine zu schützen. Nein, streichen Sie das. Er war zu allem fähig, wenn die Sicherheit des Mädchens auf dem Spiel stand.
Mittel. Motiv. Gelegenheit. Das machte die Gleichung eines Mordes aus, und hier schien das Resultat augenscheinlich.
Ich ließ meinen Blick zur Illusion der Wand schweifen, wo die Bilder, Landkarten und Fotos ein dichtes Band im oberen Feld bildeten. Je weiter mein Blick nach unten glitt, desto spärlicher wurden die Notizzettel, so dass das Ganze ein vages V bildete. An der Spitze des Vs klebte ein einzelnes, gelbes Post-it.
Darauf
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