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Harry Dresden 09: Weiße Nächte

Harry Dresden 09: Weiße Nächte

Titel: Harry Dresden 09: Weiße Nächte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim Butcher
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aus.
    Ich konzentrierte mich für eine Weile auf meine Melodie. Es war schwer, nicht hie und da Mitgefühl für sie zu empfinden. Der Trick war, nie aus den Augen zu verlieren, was letztlich ihr wahres Ziel war – Verführung, Verderben, die Unterjochung meines freien Willens. Der einzige Weg, das zu verhindern, war ständige Vorsicht bei meinen Entscheidungen und Taten. Ich musste mit äußerster Vernunft vorgehen, anstatt mich von meinen Emotionen übermannen zu lassen. Wenn das je geschah, würde das der wahren Lasciel nur in die Hände spielen.
    Hölle, wahrscheinlich hätte es sogar Spaß gemacht.
    Ich schüttelte diesen Gedanken ab und quälte mich durch „Every Breath You Take“ von Police und eine akustische Version von „I Will Survive“, die ich selbst zusammengeschustert hatte. Sobald ich fertig war, versuchte ich mich an einem kurzen Stück, dass ich selbst geschrieben hatte. Es sollte den Flair einer spanischen Gitarre haben und dabei ein paar Übungen zur Therapie meiner noch fast vollständig tauben Finger meiner linken Hand enthalten. Ich hatte es schon tausende Male geklimpert, und auch wenn ich besser geworden war, war es für Zuhörer noch immer ganz schön qualvoll.
    Außer dieses Mal.
    Diesmal bemerkte ich etwa bei der Hälfte des Stückes, dass ich es absolut fehlerfrei spielte. Ich war auch schneller als mein gewohntes Tempo, streute ein paar Riffs, Vibrati und coole Bridges ein – und es klang gut. Wie Santana.
    Ich beendete das Lied und blickte zu Lasciel hinauf.
    Sie musterte mich entschlossen.
    „Eine Vorspiegelung?“, fragte ich.
    Sie schüttelte kaum merkbar den Kopf. „Ich habe nur etwas geholfen. Ich … kann selbst keine Musik mehr komponieren und habe seit Ewigkeiten keine mehr gemacht. Ich … habe einfach nachgeholfen, dass die Musik, die du in deinen Gedanken hörst, auch wirklich aus deinen Fingern kommt. Ich habe einige der beschädigten Nerven umgangen. Das war alles, mein Gastgeber.“
    Was so ziemlich die coolste Sache war, die Lasciel jemals für mich getan hatte. Verstehen Sie mich nicht falsch; die Dinge, die auf mein fortgesetztes Überleben hinzielten, waren auch super – aber hier ging es darum, Gitarre zu spielen. Sie hatte mir geholfen, etwas Schönes zu erschaffen, und das stillte ein Sehnen in mir, das so tief und elementar in mir saß, dass ich mir dessen zuvor nicht einmal bewusst gewesen war. Irgendwie wusste ich ohne den geringsten Zweifel, dass ich selbst nicht mehr so gut würde spielen können. Nie mehr.
    Konnte etwas Böses, das wahre BÖSE in Großbuchstaben, so etwas zustande bringen? Etwas so Vollendetes, Liebliches und Schönes erschaffen?
    Achtung, Harry. Achtung.
    „Das hilft keinem von uns beiden“, schalt ich sie sanft. „Danke, aber ich möchte es selbst lernen. Ich werde aus eigener Kraft so weit kommen.“ Ich stellte die Gitarre auf ihrem kleinen Ständer ab. „Außerdem wartet jede Menge Arbeit auf uns.“
    Sie nickte. „Gut. Es geht um Thomas’ Wohnung und ihren Inhalt?“
    „Ja“, sagte ich. „Kannst du sie mir zeigen?“
    Lasciel hob eine Hand, und die Wand gegenüber des Kamins veränderte sich.
    Rein technisch gesehen veränderte sich natürlich überhaupt nichts, doch Lasciel, die nur als Wesenheit existierte, die in meinen Gedanken herum spukte, konnte Illusionen hervorrufen, die auf verblüffende Art beängstigend real waren, selbst wenn ich der Einzige war, der sie wahrnehmen konnte. Sie spürte die stoffliche Welt durch mich – und ihr standen Äonen des Wissens und der Erfahrung zur Verfügung. Ihr Erinnerungsvermögen und Blick für Details waren beinahe makellos.
    Sie hatte eine Illusion der Wand in Thomas’ Einsatzzentrale erschaffen und sie gleichsam über meine eigene Wand gelegt. Sie war sogar wie die Wand in Thomas’ Wohnung beleuchtet, und ich wusste, dass jedes noch so kleine Detail an seinem angestammten Platz sein würde, genau wie ich es vorher gesehen hatte.
    Ich schlurfte zu der Wand und begann, sie eingehend unter die Lupe zu nehmen. Die Handschrift meines Bruders war fast unleserlich, was all seine gekritzelten Notizen nicht gerade hilfreich machte, Licht ins Dunkel zu bringen, was zum Geier hier vorging.
    „Mein Gastgeber …“, hob Lasciel an.
    Ich bedeutete ihr mit einer Hand, still zu sein. „Noch nicht. Ich will mir das Ganze zunächst unvoreingenommen ansehen, und dann erzählst du mir, was du davon hältst.“
    „Wie du willst.“
    Ich widmete mich etwa eine Stunde meiner Untersuchung,

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