Harry Dresden 09: Weiße Nächte
das Sofa sinken lassen, während Anna Ash Kaffee kochte. Mouse, der stets darauf spekulierte, einen kleinen Imbiss abzustauben, folgte ihr in die Küche, bedachte sie mit seinem armseligsten Verhungernder-Hund-Blick und wedelte hoffnungsvoll mit dem Schwanz.
Einige Minuten später setzten wir uns wie zivilisierte Menschen mit Kaffee in der Hand zusammen.
„Miss Ash“, fing ich an und angelte mir eine Tasse.
„Anna, bitte.“
Ich nickte ihr zu. „Anna. Zunächst möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich Sie erschreckt habe. Das wollte ich nicht.“
Mit gerunzelter Stirn nippte sie an ihrem Kaffee, bis sie schließlich nickte. „Ich denke, ich kann Ihre Idee nachvollziehen.“
„Danke“, sagte ich. „Es tut mir auch leid, dass ich Ihr Schutzzeichen in die Luft gejagt habe. Es wäre mir eine Freude, es Ihnen zu ersetzen.“
„Wir haben viele Stunden in das Ding investiert“, seufzte Anna. „Ich meine, ich weiß … es war sicher kein Meisterwerk.“
„Wir?“, fragte ich.
„Der Ordo“, sagte sie. „Wir haben beim Schutz der Wohnungen aller zusammengearbeitet.“
„Ein Gemeinschaftsprojekt. Wie ein gemeinschaftlicher Scheunenbau bei den Amish“, sagte ich.
Sie nickte. „Das war die Idee.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Aber damals gab es noch mehr von uns.“
Für eine Sekunde wankte die Fassade, die sie sorgsam errichtet hatte, und Anna sah extrem entkräftet und verängstigt aus. Bei diesem Anblick zog sich mein Magen zusammen. Echte Angst ist nicht wie im Film. Echte Angst ist ein hässliches, lautloses, unerbittliches Ding. Eine Art Schmerz, und ich hasste es, diesen jetzt in Annas Gesicht lesen zu müssen.
Ich merkte, dass mich Elaine nachdenklich musterte. Sie saß aufs Sofa gelümmelt und hatte ihre Ellbogen auf ihren gespreizten Knien abgestützt. Sie hielt ihre Tasse in einem leichten, lässigen Winkel. Bei jedem anderen hätte das alles außerordentlich maskulin ausgesehen. Bei Elaine machte es einen gelösten, charaktervollen, zuversichtlichen Eindruck.
„Er will Ihnen nichts Böses“, sagte sie und drehte sich in Richtung unserer Gastgeberin. „Er hat diese Psychose, dass er immer den edlen Retter spielen muss. Ich war immer der Meinung, dass ihm das einen gewissen tollpatschigen Charme verleiht.“
„Ich denke, wir sollten uns lieber dem widmen, was vor uns liegt“, hüstelte ich indigniert. „Ich glaube, wir sollten all unsere Informationen zusammentragen und gemeinsam herausfinden, was dahinter steckt.“
Anna und Elaine wechselten einen langen Blick. Dann schweifte Annas Blick wieder zu mir und fragte Elaine: „Sind Sie sicher?“
Elaine antwortete mit einem betonten Nicken. „Er will Ihnen kein Leid zufügen. Dessen bin ich mir jetzt sicher.“
„Jetzt sicher?“, sagte ich. „Hast du dich aus diesem Grund hinter einem Schleier versteckt, als ich vorhin hier war?“
Elaines zarte Braue hob sich. „Du hast ihn nicht gefühlt, als du hier warst. Woher weißt du darüber Bescheid?“
Ich zuckte die Achseln. „Vielleicht hat es mir ein kleines Vögelchen gezwitschert. Glaubst du, ich wäre fähig, so etwas zu tun?“
„Nein“, antwortete Elaine. „Aber ich musste auf Nummer Sicher gehen.“
„Du solltest mich eigentlich besser kennen“, zischte ich aufbrausend, und es gelang mir nicht, den Zorn in meiner Stimme zu unterdrücken.
„Ich vertraue dir“, sagte Elaine ohne die Spur einer Entschuldigung in ihrer Stimme. „Aber wie sollte ich sicher sein, dass es wirklich du warst? Es hätte auch ein Hochstapler sein können. Es wäre auch möglich gewesen, dass du unter einer Art Zwang stehst. Hier geht es um Menschenleben. Ich musste sicher sein.“
Ich wollte sie schon anherrschen, allein weil ihr auch nur der Gedanke gekommen war, dass ich der Mörder war. Ich konnte auch genauso gut aufspringen und aus der Wohnung stürmen, ehe ich …
Doch dann seufzte ich.
Ah, süße Ironie.
„Sie haben augenscheinlich damit gerechnet, dass der Mörder hier auftaucht“, wandte ich mich an Anna. „Der Schlafzauber. Die Falle. Aus welchem Grund haben Sie eigentlich mit einem Angriff gerechnet?“
„Meinetwegen“, warf Elaine ein.
„Gut, und aus welchem Grund hast du damit gerechnet?“
Sie schenkte mir ein strahlendes, unschuldiges Lächeln und ahmte meinen Akzent und meine Aussprache nach. „Vielleicht hat ein kleines Vögelchen es mir gezwitschert.“
Ich schnaubte.
Annas Augen weiteten sich plötzlich. „Sie waren einmal zusammen.“
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