Harry Dresden 09: Weiße Nächte
wäre?“
„Du kannst gern auf dem Boot den Hampelmann machen.“
„Jetzt hör bitte endlich damit auf, ständig die Vorschriften aus dem Fenster zu werfen“, meinte sie, als würde sie eine Einkaufsliste herunterbeten. „Wir sind hier, um die Irren zu fangen, nicht, um selbst den Verstand zu verlieren. Tu jetzt nichts Verrücktes. Ich gehe in eineinhalb Sekunden in Rente.“
„Das ist die richtige Einstellung“, sagte ich und sprang vom Steg auf den Wasserkäfer.
In einem der Boote weiter unten an der Anlegestelle ließ jemand einen Motor an, der nie und nimmer auch nur die geringste Chance besessen hätte, auch nur den geringsten Emissionstest zu bestehen. Vor allem nicht, wenn jemand den Lärmausstoß überprüft hätte. Dennoch konnte ich ein leises Pochen unter dem Deck des Wasserkäfers ausmachen. Ich erstarrte, doch bis auf das Grollen des anderen Motors war nichts zu hören. Wenn ich meinem Geruchsinn trauen konnte, verbrannte der Typ da drüben auch jede Menge Öl.
Ich gab mir Mühe, mich leise fortzubewegen und umrundete die Brücke vorsichtig. Ich musste mich zwischen der Brücke und der Reling hindurchzwängen, ehe ich um die Ecke spähen konnte, um eine Treppe zu erkennen, die in den Bauch des Bootes hinabführte. Ich spürte, dass dort jemand war: zugegeben, nichts Genaues, einfach nur die intuitive Gewissheit, dass sich dort jemand befand, der seinerseits auch mitbekommen hatte, dass ich da war.
Höchstwahrscheinlich hätte ich jetzt wie verrückt an Deck herumtanzen, meine Ohren spitzen und jeden Winkel durchwühlen können, um irgendeinen Hinweis aufzustöbern, wer sich wohl dort unten befand, doch mir blieb nicht viel Zeit. Höchstwahrscheinlich wäre früher oder später irgendjemandem aufgefallen, wie ich an Bord von Deckung zu Deckung hastete, ohne dass dafür ein augenscheinlicher Grund bestand. Einige hätten das einfach ignoriert. Hölle, die meisten hätten das. Aber es führte kein Weg daran vorbei, dass es jemandem spanisch vorkommen musste, der daraufhin die Polizei rief.
„Scheiß drauf“, sagte ich. Ich vergewisserte mich, dass mein Staubmantel richtig saß, fuhr meinen Schild vor mir hoch und kletterte eilig die Treppe in den Bauch des Schiffes hinab.
Mir blieb eine halbe Sekunde Vorwarnzeit, ehe sich jemand die Treppe hinter mir hinab schwang. Er musste außer Sichtweite flach am Bauch liegend auf dem Brückendach gelauert haben. Ich wollte herumfahren, doch zwei Absätze prallten in einem Tritt mit beiden Beinen gegen mein Schulterblatt und schleuderten mich weiter in den Laderaum.
Der Staubmantel war Weltmeister, wenn es darum ging, Krallen oder Kugeln abzufangen, gegen die stumpfe Gewalt des Trittes half er mir allerdings weniger. Es tat weh. Im Fallen riss ich den Schild vor mir hoch und ließ ihn augenblicklich wieder sinken, da ich sonst kopfvor gegen die starre Barriere aus Energie gelaufen wäre wie gegen eine solide Wand. Die ersterbende Energie meines Schildes fing mich allerdings ausreichend ab, so dass ich mich von meinem Fall gut abrollen konnte. Ich kam mit dem Blick auf die Treppe gerichtet auf die Knie und sah Thomas mit Mordgier in den Augen auf mich zustürmen.
Er hatte sich mit einem dieser krummen Messer, die die Gurkhas verwenden, in einer Hand auf der Treppe zum Sprung niedergekauert. In der zweiten hielt er eine doppelläufige Schrotflinte, von deren Lauf noch etwa zwanzig Zentimeter übrig waren. Er hatte sie direkt auf meinen Kopf gerichtet. Mein Bruder war eine Spur unter eins achtzig groß, schmal und drahtig, als hätte man ihn aus Peitschenschnüren und Stahlseilen zusammengeschraubt. In seinen Augen in dem bleichen Gesicht flackerte stille Wut. Ihr übliches Wolkengrau war einem zornigen, gefühllosen Silber gewichen, was bedeutete, er hatte seine dämonische Vampirseite als Kraftquelle angezapft. Sein schulterlanges Haar war mit einem roten Stirnband gebändigt, und seine blöde Frisur sah immer noch modischer aus als meine.
„Thomas“, fauchte ich. „Au! Was ist denn mit dir los?“
„Du hast eine Chance, dich zu ergeben, Arschloch. Weg mit der Magie und der falschen Visage!“
„Thomas. Hör auf, dich wie der letzte Vollarsch aufzuführen. Darauf habe ich im Augenblick echt keinen Bock!“
Thomas fletschte die Zähne. „Gib’s auf. Du spielst die Rolle gut, aber du bist nicht Harry Dresden. Nie wäre der echte Dresden mit so einem Prachtweib anstelle seines Hundes hier aufgekreuzt.“
Ich blinzelte ihn an und senkte meinen
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