Harry Dresden 09: Weiße Nächte
Nach einem Dutzend langer Schritte wurde die Luft kälter, und bald formte mein Atem kleine Wölkchen, sobald er mir über die Lippen gedrungen war. Der Minenschacht weitete sich und machte dann einen scharfen Knick nach unten. Links berührte ich weiter die Tunnelwand, in meiner rechten Hand hielt ich meinen Stab, einerseits, um eine Lichtquelle zu haben, andererseits, um eine Waffe bereit zu halten, sollte mir irgendetwas aus den Schatten entgegen gesabbert kommen. Zu meiner Linken stieß ich auf eine Schachtöffnung, und als ich daran vorbeischritt, vernahm ich ein knurrendes Zischen aus den Tiefen.
Ich wandte mich um und eilte den Tunnel hinab, wo ich auf alte Geleise stieß, die in den Boden eingelassen waren und auf denen man einst Kippkarren hin und her geschoben hatte, um das Erz aus den Eingeweiden der Mine nach oben zu schaffen. Je weiter ich vorankam, desto deutlicher war der Laut auszumachen. Ich konnte jetzt einige Nuancen in dem Zischen erkennen, und vielleicht ein schwaches Winseln.
Vermutlich hätte ich ab diesem Zeitpunkt vorsichtiger vorgehen sollen. Vermutlich hätte ich leiser sein, das Flackern erlöschen lassen und mich weiter voran schleichen sollen, um einmal zu sehen, was ich so herausfinden konnte. Für etwa eine Viertelsekunde erwog ich ernstlich eine gute, alte Erkundungsmission aus dem Lehrbuch.
Scheiß drauf. Kinder waren in Gefahr.
Ich stürmte im Schweinsgalopp durch eine hölzerne Trennwand. Der Ghul, der sich seiner menschlichen Verkleidung völlig entledigt hatte und ebenfalls sandfarbene Robe trug, hatte mir den Rücken zugewandt und kratzte mit den bloßen Klauen über einen Abschnitt der Tunnelwand. Seine Hände waren blutverschmiert, und einige seiner Krallen waren abgebrochen. In sein verzweifeltes Schnappen nach Luft mischte sich ein unterschwelliges Grollen. Lasciel war immer noch am Werk. „Verraten“, zischelte der Ghul. „Verraten. Abrechnung, oh ja … Ausgleich der Waagschalen … lasst mich rein!“
Die Zeit schien langsamer zu verlaufen, als mir Gedanken in unglaublicher Geschwindigkeit durch den Kopf schossen. Ich konnte alles ganz klar sehen, egal, ob es direkt vor mir lag oder ob ich es nur aus den Augenwinkeln erspähte. Die Szenerie war so hell beleuchtet und so ordentlich aufgeräumt wie das Schulpult eines Drittklässlers am ersten Schultag.
Die Trailman-Geschwister waren keine eineiigen Zwillinge. Terry, der Bruder, war einige Zentimeter kleiner als seine auf dem Papier jüngere Schwester, doch er war aus seiner kurzen Hose und seinem T-Shirt schon derart herausgewachsen, das es aussah, als hätte er sich Mühe gegeben, den Spieß umzudrehen. Doch dazu sollte es nie kommen. Sein Körper lag auf dem Boden des Schachtes, sein Gesicht war eine Maske aus getrocknetem Blut und zerfetztem Fleisch. Der Ghul hatte ihm die Kehle herausgerissen. Er hatte auch die Schlagader in Terrys Oberschenkel durchtrennt. Der Mund des Kleinen war geöffnet, und ich konnte sehen, dass an seinen Zähnen immer noch das widerliche Blut des Ghuls klebte. Auch die Knöchel an seinen Händen waren aufgerissen. Der Junge war im Kampf gestorben. Einen halben Meter weiter sah ich den Grund für seine Anstrengungen. Tina Trailman lag auf dem Steinboden und starrte mit glasigen Augen zur Decke. Von der Hüfte abwärts war sie splitternackt. Die Kehle und ein Großteil ihrer Nackenmuskulatur waren nicht mehr vorhanden, gewaltsam in Fetzen gerissen wie ihre bescheidenen Brüste. Der Oberschenkelmuskel ihres rechten Beins fehlte großteils, und die Haut darum hatten eindeutig die Reißzähne des Ghuls zerfetzt. Überall war Blut. Es bildete um ihren Körper eine klebrige Lache.
Ich sah, wie sie ein wenig zitterte. Ein ersterbendes Geräusch entwand sich ihrem starren Leib. Sie war tot – das wusste ich. Dieser Anblick bot sich mir nicht zum ersten Mal. Noch schlug ihr Herz, aber die Zeit, die ihr blieb, war reine Formsache.
Vor Zorn wurde mir rot vor Augen. Vielleicht war es ja auch das Höllenfeuer. Bereits im Sprung schöpfte ich immer mehr dieser geheimnisvollen Energie, packte den Stab in beiden Händen, rammte die Spitze in das Kreuz den Ghuls und fauchte: „Fuego!“
Der Aufprall, der mein gesamtes Gewicht, meine Kraft und meine Geschwindigkeit in sich trug, zertrümmerte allein schon einige Wirbel des Ghuls. Dann brandete auch der Feuerzauber aus der Spitze des Stabs und füllte den Tunnel mit Donner und Licht.
Gewaltige Hitze erblühte vor mir, schnitt in den Körper des
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