Harry Dresden 09: Weiße Nächte
unter einer Decke aus dunklem Rauch eine nervenaufreibende Grabesstille über die Szene. Eine schwache Brise, die bereits die heraufziehende Gluthitze des Tages ankündigte, lüftete diese Rauchdecke für einen kurzen Augenblick.
Der Ghul, jetzt in seiner wahren Gestalt, lag ausgestreckt auf der versengten Erde. Er war zu kaum mehr als einem ekelhaft geschwärzten Skelett verbrannt, auch wenn noch genug Muskeln an einem Bein heil geblieben waren, um ein unheimliches Zucken durch den Körper zu jagen. Doch selbst jetzt war die Kreatur nicht tot. Das überraschte mich nicht. Meiner Erfahrung nach taten Ghule nichts, das nicht widerlich war. Wie sollte ich jetzt erwarten, dass er sauber starb?
Sobald ich mich überzeugt hatte, dass er so bald nicht mehr aufstehen würde, ließ ich meinen Blick auf der Suche nach weiterer Bewegung aufmerksam über die Bergflanken streichen, doch ich wurde nicht fündig. Dann drehte ich mich um und eilte den Hang hinunter zurück ins Lager.
Luccio war schwer damit beschäftigt, sich um die Verletzten zu kümmern. Drei waren von Gewehrschüssen getroffen worden, einige weitere, darunter auch ein oder zwei der erwachsenen Wächter, hatten Gesteinssplitter oder Trümmer der Klapptische und Sessel abbekommen.
Ramirez kam zu mir herübergeeilt und fragte: „Hast du ihn erwischt?“ Sein Blick schweifte zu dem beträchtlichen Abschnitt der Berghanges, der nun unter Rauchschwaden verborgen war, und wo diverse Büsche und Flecken trockenen Grases in Flammen standen. „Ja, hast du wohl.“
„Irgendwie schon“, stimmte ich zu. „Du meintest, die hätten zwei unserer Kinder?“
Mit verärgertem Gesicht nickte er. „Das Duo des Grauens. Sie waren gerade auf dem Weg den Hang rauf, um eine geeignete Stelle für den Unterricht zu finden. Ich nehme mal an, sie wollten angeben.“
„Sechzehn“, murmelte ich. „Gott.“
Ramirez schnitt eine Grimasse. „Ich habe sie angeschrien, sie sollten zurückkommen, als einer der Ghule aus einem Gebüsch gesprungen kam und sie umgerissen hat, und die drei Arschlöcher, die sich in die alte Schmiede geschlichen hatten, eröffneten das Feuer.“
„Wie gut bist du im Spurenlesen?“, fragte ich ihn.
„Hätte eigentlich gedacht, dass ihr Anglos das alle bei den Pfadfindern beigebracht bekommt. Ich bin in L.A. aufgewachsen.“
Ich stieß einen Stoßseufzer aus und überlegte fieberhaft. „Luccio hat alle Hände voll zu tun. Sie wird Hilfe für die Verletzten anfordern. Bleiben nur wir beide, um uns um die Zwillinge zu kümmern.“
„Das werden wir verdammt noch mal auch tun“, sagte Ramirez. „Aber wie?“
„Hast du Gefangene?“
„Die zwei, die ich nicht in die Luft gejagt habe, ja.“
„Wir befragen sie.“
„Glaubst du, die werden ihren Kumpel verpfeifen?“
„Wenn sie glauben, dass es ihnen das Leben rettet?“, fragte ich. „Ohne mit der Wimper zu zucken. Sofort.“
„Wiesel“, murmelte Ramirez.
„Sie sind einfach, was sie sind, Alter“, sagte ich. „Es bringt nichts, sie deshalb zu hassen. Sei einfach froh, dass wir das zu unserem Vorteil nutzen können. Lass uns gehen!“
23. Kapitel
D ie Ghule lagen über und über von einer dicken Staubschicht, die so fein war wie Babypuder, bedeckt auf dem Boden – den Überbleibseln der Wand, die Ramirez weggepustet hatte, ihres Gefährten, seiner Waffe und des rechten Armes und Beines eines der gefangenen Ghule. Der verwundete Ghul, der durch die Auswirkungen seiner Verletzungen wieder seine ursprüngliche Gestalt angenommen hatte, keuchte und spuckte hustend Staub. Der zweite Ghul machte immer noch einen großteils menschlichen Eindruck und war in eine zerfetze Garnitur sandfarbener Roben gehüllt, die aussahen, als stammten sie aus Lawrence von Arabien . In einigen Metern Entfernung lag eine weitere Kalaschnikow hinter Bill Meyers, dem jungen Wächter, der sich über den beiden aufgebaut hatte und den unversehrten Ghul mit einer doppelläufigen, großkalibrigen Schrotflinte in Schach hielt.
„Vorsicht“, sagte Meyers. Er sprach den gedehnten Dialekt, den man in ländlichen Gebieten westlich des Mississippis in einer weiteren Entfernung als eineinhalb Stunden von einer größeren Stadt überall anzufinden scheint, auch wenn er aus Texas stammte. „Hab sie noch nich’ untersucht. Scheint so, als sprächen die kein Englisch.“
„Was?“, sagte Ramirez. „Wie blöd. Wer, bitte schön, macht sich die Mühe, Ghule als verdeckte Schläger ins Land zu karren, wenn sie nicht
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