Harry Dresden 09: Weiße Nächte
konnte. „Was meinst du, wie viele Lektionen wird es erfordern, bis die Kinder diese hier gelernt haben?“
Erneut regte sich Zorn in meiner Brust.
„Kampf ist eine Sache“, sagte Ramirez. „Das ist etwas anderes. Sieh sie dir an.“
Plötzlich fühlte ich das Gewicht aberdutzender Blicke auf mir ruhen. Ich drehte mich um und sah, wie unsere Schützlinge mich anblickten. Sie waren alle blass, augenscheinlich bestürzt und schwiegen. In ihren Blicken las ich pures Entsetzen.
Ich kämpfte Enttäuschung und Zorn nieder. Ramirez hatte recht. Selbstverständlich. Verdammt.
Ich zog meine Waffe und exekutierte den Ghul.
„Dios“, hauchte Ramirez. Dann starrte er mich an. „So habe ich dich noch nie gesehen.“
Ich begann, die kleineren Verbrennungen zu spüren. Die Sonne verwandelte Camp Kabumm langsam in ein riesiges Backblech, auf dem alles Weiche einfach weggesengt wurde. „Wie?“
„Kalt“, sagte er schließlich.
„So ist es nun mal“, sagte ich. „Man serviert Rache am besten kalt.“
Kalt.
Kalt.
Ich kam zu mir. Nicht New Mexico. Dunkel. Kalt, so kalt, dass es brannte. Enge in der Brust.
Ich war im Wasser.
Meine Brust schmerzte. Ich schaffte es, nach oben zu sehen.
Sonne schien durch ungefähr zwanzig Zentimeter dickes, zerborstenes Eis. Ich erinnerte mich wieder. Der Kampf an Bord des Wasserkäfers. Die Ghule. Der See. Das Eis war geborsten, und ich war ins Wasser gestürzt.
Ich konnte nicht weit sehen, als ein Ghul mit am Körper angelegten Armen wie ein Krokodil durch das Wasser an mir nahe genug vorbei glitt, dass ich ihn hätte ergreifen können. Er bemerkte mich im selben Atemzug wie ich ihn und wandte sich ab.
Nie mehr.
Ich streckte eine Hand aus und umklammerte den Bund seiner Hose. Der Ghul verfiel in Panik, schwamm schneller und tauchte in die eisige Dunkelheit, um mich dazu zu bringen, ihn loszulassen.
Mir war klar, dass ich atmen musste und kurz davor stand, das Bewusstsein zu verlieren. Ich verwarf den Gedanken als bedeutungslos. Dieser Ghul würde nie wieder einem Menschen Schaden zufügen können, und wenn es das Letzte war, was ich tat. Langsam umfing mich totale Finsternis.
Dann glitt eine weitere, bleiche Gestalt durch das Wasser. Diesmal war es Thomas, mit entblößtem Oberkörper, sein gekrümmtes Messer zwischen die Zähne geklemmt. Er kam immer näher an den Ghul heran, der sich vor Angst und Verzweiflung derart zu winden und schütteln begann, dass er sich von meinen schwächer werdenden Fingern losriss.
Ich trieb dahin. Fühlte, wie sich etwas Kaltes um mein Handgelenk legte, fühlte das Licht schmerzhaft grell näherkommen.
Dann durchbrach mein Gesicht die Oberfläche des eisigen Wassers, und ich sog einen schwachen Atemzug in die Lungen. Ich fühlte, wie sich eine schlanke Hand unter mein Kinn legte, und dann zog mich jemand durch die Fluten des Michigansees. Elaine. Ich würde die Berührung ihrer Haut auf meiner immer erkennen.
Erneut durchbrachen wir die Oberfläche, und sie schnappte laut hörbar nach Luft, während sie mich in Richtung des Steges hievte. Mit Hilfe Olivias und der anderen Frauen fischte sie mich aus dem See. Ich kam seitlich zum Liegen und sog heftig zitternd alle Luft ein, die in meine Lungen passte. Langsam nahm die Welt wieder ihr gewohntes Erscheinungsbild an, doch ich war zu erschöpft, um daran noch großartig etwas zu ändern.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, doch die Sirenen waren schon ganz in der Nähe, als Thomas auftauchte und sich aus dem Wasser zog.
„Geht“, flüsterte Thomas. „Kann er gehen? Ist er angeschossen?“
„Nein“, antwortete Elaine. „Vielleicht ist es der Schock; ich weiß nicht. Ich glaube, er hat sich den Schädel angestoßen.“
„Wir können nicht hierbleiben“, sagte Thomas. Ich fühlte, wie er mich emporhob und sich über die Schulter warf. Er versuchte, so rücksichtsvoll und sanft zu sein, wie sich das nun mal vollbringen ließ.
„Richtig“, sagte Elaine. „Los! Alle zusammen, beeilt euch, aber lasst euch nicht trennen.“
Ich spürte Vorwärtsbewegung. Mein Kopf schmerzte. Grausam.
„Hab dich“, beruhigte mich Thomas, als er zu gehen begann. „Alles paletti, Harry“, brummte er. „Sie sind in Sicherheit. Alle sind heil rausgekommen. Hab dich!“
Thomas’ Wort war mir gut genug.
Ich schloss die Augen und versuchte nicht länger, den Geschehnissen zu folgen.
24. Kapitel
D ie Berührung äußerst warmer, sanfter Finger weckte mich.
Mein Kopf schmerzte, wenn dies
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