Harry Dresden 10 - Kleine Gefallen: Die dunklen Fälle des Harry Dresden Band 10 (German Edition)
Sie mal eine Schlange aus den ganzen Fußgängern und befragen sie, was denn wohl geschehen sei. Jeder einzelne wird Ihnen eine etwas andere Geschichte auftischen. Manche werden den ganzen Schlamassel vom Anfang bis zum bitteren Ende gesehen haben. Andere wieder nur das Durcheinander nach dem Zusammenprall. Einige werden nur eines der Fahrzeuge gesehen haben. Manche werden Ihnen im Brustton aufrichtigster Überzeugung weismachen wollen, sie hätten beide Autos von Anfang bis Ende gesehen, einschließlich solcher Details wie den Gesichtsausdruck der Fahrer oder in welchem Maß die Wagen beschleunigt hätten, auch wenn sie dazu an zwei Orten gleichzeitig über der Straße geschwebt und telepathische Fähigkeiten entwickeln hätten müssen, um das wirklich zu Stande zu bringen.
Die meisten Leute werden absolut ehrlich sein und sich trotzdem irren. Ein ehrlicher Irrtum ist etwas ganz anderes als eine Lüge, das Endergebnis ist aber dasselbe, wenn man die Augenzeugen eines gewissen Geschehnisses befragt. Nur eine verschwindend geringe Minderheit wird sich darauf beschränken, was sie tatsächlich gesehen hat, und nicht mit Annahmen oder Erinnerungen aufpeppen, die von persönlichen Erfahrungen verunreinigt sind. Von dieser verschwindend geringen Minderheit ist wieder nur ein Bruchteil von jenem Typ Mensch, der die Begabung oder vielleicht auch die Ausbildung besitzt, sich jede Menge Details in einem extrem kurzen Zeitraum einzuprägen.
Der springende Punkt ist: Sobald sich ein Ereignis erst einmal in unserer Erinnerung eingenistet hat, wird es immer verschwommener und die Details purzeln munter durcheinander. Es ist oft eher eine Kunst als eine Wissenschaft, aus Augenzeugenberichten ein Ereignis zu rekonstruieren – und hier sprechen wir über ein wirklich unwichtiges Geschehnis, wo uns einfach unsere Psyche ein Schnippchen schlägt, ohne dass tiefe persönliche Gefühle eine Rolle gespielt hätten.
Wenn man diese Mischung jetzt noch ordentlich mit Gemütsbewegungen würzt, wird aus einer dezenten Verwirrung das reinste Chaos. Wir bleiben einfach bei dem Zusammenstoß. Nehmen wir an, im einen Auto saßen lauter Skinheads und im anderen schwarze Bandenmitglieder, sie kollidieren irgendwo in einem Viertel der South Side, und wir haben es genau mit so einem Ereignis zu tun, das riesige Krawalle auslösen kann. Egal was wirklich passiert, die Chancen stehen schlecht, dass Sie die wahre Geschichte aus jemandem herauskitzeln können. Tatsächlich werden Sie wahrscheinlich ziemliche Schwierigkeiten haben, in dieser Situation auch nur irgendeine Geschichte aus irgendjemandemherauszukitzeln.
Sobald menschliche Gefühle im Spiel waren, war alles möglich.
Der zweite Grund, dass in einer Großstadt Dinge unbemerkt geschehen konnten, war verdammt einfach: Wände. Wände versperrten die Sicht.
Lassen Sie mich diesen Satz anders formulieren: Wände verhinderten, dass sich jemand einmischte.
Das Tier Mensch ist völlig auf Optik ausgerichtet. Sachen existieren nicht, bis wir sie sehen: Sie glauben etwas erst, wenn Sie es mit eigenen Augen gesehen haben, stimmt’s? Deshalb gibt es ja auch Bühnenzauberer. Sie lassen uns Dinge sehen, die überhaupt nicht da sind, und die sehen einfach fantastisch aus.
Wenn jetzt also ein gewöhnliches Menschlein mit ansah, wie etwas Schlimmes geschah, waren die Chancen viel höher, dass es eingriff, als wenn andere Sinne betroffen gewesen wären. Den Beweis finden wir in der Geschichte. Klar hatten die Alliierten im zweiten Weltkrieg von den Todeslagern der Nazis gehört, doch es war etwas völlig anderes, als alliierte Truppen die Juden tatsächlich mit eigenen Augen sahen, als sie die Lager befreiten. Der Verleger Hearst hatte vorher so schlau gesagt: „Sie machen die Bilder, ich mache den Krieg“, und wenn man den Berichten Glauben schenkte, war es dann auch genau so.
Im Gegenzug gilt dann aber auch, wenn Sie etwas nicht sehen, existiert es überhaupt nicht. Wenn Sie von ganz großen Tragödien hören, berühren diese Sie nicht auf dieselbe Art, als wenn Sie selbst inmitten der Trümmer stünden.
Nirgendwo gab es mehr Wände als in einer Großstadt, und eben diese hinderten einen daran, gewisse Dinge zu sehen. Klar, möglicherweise hören Sie nachts draußen ein dumpfes Knallen. Aber es ist einfach, sich einzureden, dass das sicher keine Schüsse waren und nicht der geringste Grund besteht, die Polizei zu rufen oder sich Sorgen zu machen. Höchstwahrscheinlich war es nur ein kaputter
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