Harry Dresden 10 - Kleine Gefallen: Die dunklen Fälle des Harry Dresden Band 10 (German Edition)
fokussierte ihren Blick auf die gegenüberliegende Wand, blinzelte einige Male und musterte mich dann eindringlich. Sie nickte, ohne zu sprechen.
„Ich, äh“, sagte ich leise.
Molly hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich hielt den Mund.
„Gut“, sagte sie. „Äh, lass mich kurz nachdenken.“ Sie schloss die Augen. Vor Konzentration bildete sich eine Denkfalte auf ihrer Stirn, und sie begann, jeden Satz an den Fingern abzuzählen. „Luccio sagt, das Archiv sei stabil, aber bewusstlos. Sie ist gerade bei Murphy zuhause und muss mit dir reden. Murphy lässt ausrichten, ihr Gesicht kommt wieder in Ordnung. Sanya sagt, er müsse sich schnellstmöglich unter vier Augen mit dir unterhalten, in St. Mary.“
Ich wedelte mit der Hand. „Darum kümmere ich mich später. Wie geht es deinem Vater?“
„Schweres Lebertrauma“, sagte Charity monoton. „Eine seiner Nieren ist kollabiert und zu schwer beschädigt, als dass man sie noch retten könnte. Sein Rückgrat ist verletzt. Eine seiner Rippen ist mehrfach gebrochen. Seine Hüfte ist an zwei Stellen gebrochen. Sein Unterkiefer ist zertrümmert. Subdurales Hämatom. Trauma in einer Augenhöhle. Sie wissen noch nicht, ob er das Auge verlieren wird oder nicht. Möglicherweise ist auch sein Gehirn verletzt. Das wissen sie noch nicht.“ Ihre Augen quollen über, und sie starrte erneut in die Ferne. „Sie haben auch ein Herztrauma festgestellt. Knochensplitter darin. Von den Rippen.“ Sie fröstelte und schloss die Augen. „Sein Herz. Sie haben sein Herz verletzt.“
Molly setzte sich wieder neben ihre Mutter und legte die Arme um Charitys Schultern. Charity lehnte sich gegen sie. Tränen troffen herab, doch sie gab nicht das geringste Geräusch von sich.
Ich war kein Ritter.
Ich war auch kein Held.
Helden hielten ihre Versprechen.
„Molly“, sagte ich leise. „Es tut mir leid.“
Sie sah zu mir auf, und ihre Lippe begann zu zittern. Sie schüttelte den Kopf und seufzte: „Oh Harry.“
„Ich gehe besser.“
Charitys Gesicht fuhr zu mir herum, und sie sagte mit klarer Stimme: „Nein.“
Molly blinzelte ihre Mutter entgeistert an.
Charity stand auf, ihr Gesicht war tränenüberströmt und mit Sorgenfalten überzogen, und ihre Augen waren vor Müdigkeit in die Höhlen gesunken. Sie starrte mich lange unverwandt an, ehe sie sagte: „Familie bleibt, Harry.“ Sie hob ihr Kinn, und plötzlich nahm lodernder Stolz den Platz der Trauer in ihren Augen ein. „Er würde auch bei dir bleiben.“
Mein Blick verschwamm etwas, und ich sank auf dem nächsten Stuhl nieder. Höchstwahrscheinlich nur eine natürliche Reaktion auf die Anstrengung der letzten Tage.
„Ja“, sagte ich mit belegter Stimme. „Das würde er.“
Ich rief jeden auf der Liste an, die Molly für mich heruntergebetet hatte, und ließ sie wissen, dass sie sich würden gedulden müssen, bis klar war, wie es um Michael stand. Außer Murph regten sich alle furchtbar darüber auf. Ich ließ sie wissen, sie könnten zur Hölle fahren, und legte auf.
Dann setzte ich mich zu Molly und Charity und wartete.
Im Krankenhaus zu warten ist immer am schlimmsten, und die Tatsache, dass dies uns allen früher oder später passierte, machte es um keinen Deut besser. Es war immer eine Spur zu kalt. Es roch immer ein wenig zu scharf und zu sauber. Es war immer zu still, so still, dass man die Neonröhren flackern hören konnte – eine weitere Konstante, diese Deckenlampen. Die meisten anderen dort befanden sich in einer ähnlich beschissenen Lage, also konnte man die Hoffnung auf eine fröhliche Unterhaltung ohnehin sofort begraben – und es befand sich immer eine Uhr in Sichtweite. Die Uhr besaß Superkräfte. Sie schien immer viel zu langsam zu gehen. Wenn man zu ihr emporsah, konnte man die Zeit ablesen. Wenn man eineinhalb Stunden später erneut nach oben blickte, informierte sie einen, dass gerade einmal ein oder zwei Minuten verstrichen waren. Trotzdem besaß sie die einzigartige Gabe, einen zu erinnern, wie kurz das Leben war und wie wenig Zeit man vielleicht noch mit jemandem hatte, den man liebte.
Der Tag kroch vorbei. Zweimal kam ein Arzt, um mit Charity zu reden, ihr zu sagen, es stehe immer noch schlimm um Michael und sie seien nach wie vor verbissen am Werk. Als er zur Zeit des Abendessens zum zweiten Mal kam, schlug er vor, sie solle etwas essen und sie könnten nach dem nächsten Eingriff in drei bis vier Stunden Genaueres sagen.
Er fragte Charity, ob Michael eingewilligt
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