Harry Dresden 10 - Kleine Gefallen: Die dunklen Fälle des Harry Dresden Band 10 (German Edition)
Luccio. „Ihre Großmutter ist bei einem etwas zwielichtigen Autounfall ums Leben gekommen, wenn ich mich recht erinnere. Ihre Mutter war ein siebzehn Jahre altes, verliebtes Mädchen, das in anderen Umständen war. Sie hasste ihre Mutter dafür, dass sie gestorben war und sie mit dem Fluch des Archivs zurückgelassen hatte, als sie ihr eigenes Leben leben wollte – und sie hasste das Kind, dem ein freies Leben noch bevorstand. Ivys Mutter hat sich umgebracht, um das Archiv nicht tragen zu müssen.“
Mir wurde langsam ein wenig übel. „Ivy weiß das.“
„Ja. Sie weiß es, fühlt es. Als sie auf die Welt kam, wusste sie genau, was ihre Mutter von ihr hielt.“
„Woher weißt du das über ihren …“ Nachdenklich runzelte ich die Stirn. „Kincaid. Das Mädchen war in Kincaid vernarrt.“
„Nein“, entgegnete Luccio. „Doch Kincaid arbeitete zu dieser Zeit für Ivys Großmutter, und das Mädchen hat sich ihm anvertraut.“
„Mann, ist das kaputt“, sagte ich.
„Ivy ist ihr ganzes Leben über immer distanziert gewesen“, fuhr Luccio fort. „Wenn sie nun anfängt zuzulassen, dass ihre Gefühle Einfluss auf ihre Pflichten als Archiv oder ihr Leben generell haben, geht sie ein unglaubliches Risiko ein, von Emotionen und Leidenschaften übermannt zu werden, mit denen sie psychologisch nicht umgehen kann.“
„Du hast Angst, sie könnte außer Kontrolle geraten.“
„Das Archiv soll eine neutrale Macht sein. Ein Wissensspeicher. Doch was, wenn Ivys einzigartige Umstände es ihr erlauben, diese Grenzen zu übertreten? Stell dir nur einmal die Folgen vor, wenn all die Wut und die Verbitterung und der Hass und die Rachsucht aus all diesen Leben gepaart mit der Macht des Archivs nur noch durch die Zurückhaltung eines zwölfjährigen Mädchens in Zaum gehalten werden.“
„Das will ich lieber nicht“, gestand ich.
„Ich auch nicht“, stimmte Luccio zu. „Das könnte sich zu einem Alptraum entwickeln. All das Wissen ohne ein Gewissen, das es steuert. Der Nekromant Kemmler hatte einen Geist des Wissens in seinen Diensten, eine Art Miniaturarchiv. Bei weitem nicht so mächtig, doch er hatte über Jahrhunderte von Magiern gelernt, und die Dinge, zu denen der Geist fähig war, waren wahrhaftig abscheulich.“ Sie schüttelte den Kopf.
Ich trank Tee, weil ich sonst mein erschrecktes Schlucken kaum hätte verbergen können. Sie sprach von Bob, und sie hatte absolut recht in Bezug darauf, wozu er fähig war. Als ich die Persönlichkeit an die Oberfläche gebracht hatte, die er unter einigen seiner vormaligen Besitzer angenommen hatte, hätte er mich um ein Haar getötet.
„Natürlich haben ihn die Wächter vernichtet“, sagte sie.
Nein, hatten sie nicht. Justin DuMorne, ein einstiger Wächter, hatte den Schädel nicht zerstört. Er hatte ihn aus Kemmlers Labor geschmuggelt und behalten – bis ich ihn einem feurigen Tod zugeführt und mir den Schädel gekrallt hatte.
„Er besaß einfach zu viel Macht und zu wenig Zurückhaltung, und es ist nur zu gut möglich, dass sich das Archiv zu einer ähnlichen Bedrohung entwickelt, allerdings auf einem völlig anderen Maßstab. Ich weiß, das Kind liegt dir am Herzen. Aber ich musste dich warnen. Vielleicht tust du ihr keinen Gefallen damit, so zu tun, als wärst du Ivys Freund.“
„Was heißt so tun?“, grummelte ich. „Wo ist sie?“
„Wir haben sie schlafen lassen, bis du oder Kincaid kommen.“
„Ah, ich kapiere!“, brummte ich. „Ich soll mich von ihr fernhalten. Außer wenn du dir Sorgen machst, was geschehen könnte, wenn sie völlig verstört und verängstigt aufwacht.“
Luccio errötete und wandte den Blick ab. „Ich habe nicht auf alles eine Antwort. Ich mache mir nur Sorgen.“
Ich seufzte.
„Egal“, sagte ich. „Lass mich sie sehen.“
Luccio führte mich in Murphys Gästezimmer. In dem Doppelbett sah Ivy so klein aus. Ich setzte mich neben sie aufs Bett, und Luccio beugte sich über sie und legte ihr sanft die Hand auf den Kopf. Sie brummte etwas und zog die Hand zurück.
Ivy begann, leise zu wimmern und öffnete blinzelnd die Augen. Plötzlich begann sie zu hyperventilieren. Sie sah sich mit aufgerissenen Augen angsterfüllt um und stieß einen leisen Schrei aus.
„Ruhig“, sagte ich sanft. „Alles ist okay. Du bist in Sicherheit.“
Sie schluchzte und warf sich in meine Arme.
Ich umarmte sie, wiegte sie einfach sanft, während sie weinte und weinte.
Luccio beobachtete mich voller Mitgefühl mit traurigen
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