Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
leisten.“
Sie holte noch einmal tief Luft, und als sie diesmal ausatmete, spürte ich, wie sich ihr mentaler Griff um die Kräfte lockerte, die sie instinktiv gesammelt hatte. „Gut!“, sagte sie. „Alles klar, Harry.“
Endlich wagte ich es, sie loszulassen. Sie rieb sich das rechte Handgelenk, und ich zuckte sozusagen stellvertretend für sie zusammen, musste ich doch befürchten, dort jede Menge blauer Flecke hinterlassen zu haben.
„Du kannst mir einen Gefallen tun“, sagte ich. „Nimm Mouse und geh die Post holen.“
„Lass mal, ich muss jetzt nicht ...“ Sie unterbrach ihre Einwände, schüttelte den Kopf und warf Mouse einen Blick zu.
Der große Hund rappelte sich auf, schlenderte zum Korb neben der Wohnungstür, holte sich die Lederleine, die dort lag und sah mit hoffnungsvollem Schwanzwedeln und schräg gelegtem Kopf zu Molly auf.
Die gab ein klägliches leises Lachen von sich, kniete sich hin, um den großen Hund zu umarmen und hakte die Leine an seinem Halsband fest. Dann trabten die beiden los.
Ich drehte mich um und sah die Kerze an. Sie hatte heißes Wachs auf meinen echten Navajo-Teppich gekleckert, aber nichts in Brand gesetzt. Ich bückte mich, hob sie auf, und versuchte, das Wachs so gut es ging vom Teppich zu kratzen.
„Warum?“, fragte ich mit harter Stimme.
„Eine Möglichkeit, einen Mann einzuschätzen“, sagte Morgan. „Man sieht sich seine Schüler an.“
„Von wegen anschauen“, sagte ich. „Sie haben Sie provoziert, bis sie hochgegangen ist.“
„Sie hat sich früher selbst als Hexerin bezeichnet“, erwiderte Morgan. „Sie hat sich eines der ekelhaftesten, autodestruktivsten Verbrechen schuldig gemacht, die ein Magier begehen kann. Gibt es einen Grund, sie nicht zu testen?“
„Was Sie getan haben war grausam“, sagte ich.
„Ach ja? Sie wird irgendwann einmal auf andere treffen, die nicht so barmherzig mit ihr umspringen. Bereiten Sie sie darauf vor, mit solchen Leuten fertig zu werden?“
Ich funkelte ihn wütend an.
Er hielt meinem Blick unverwandt stand. „Sie tun ihr keinen Gefallen, wenn Sie lasch mit ihr umspringen“, sagte er, nun schon leiser. „Sie bereiten Sie nicht auf Examina vor. Wenn sie bei echten Konfrontationen durchfällt, geht es nicht um schlechte Noten.“
Ich schwieg einen Moment, ehe ich ihn fragte: „Als Sie Lehrling waren, haben Sie da gelernt, wie man einen Schild aufbaut?“
„Natürlich. Das war eine meiner ersten Übungen.“
„Wie hat Ihre Meisterin Ihnen das beigebracht?“, wollte ich wissen.
„Sie hat mit Steinen nach mir geworfen“, sagte er.
Ich knurrte, ohne ihn anzusehen.
„Schmerz motiviert“, sagte er, „und man lernt gleichzeitig, seine Affekte zu beherrschen.“ Morgan sah mich an. „Warum fragen Sie?“
„Nur so“, sagte ich achselzuckend. „Sie hätte Ihnen ein Loch in den Schädel schlagen können.“
Wieder bedachte er mich mit diesem beunruhigenden Lächeln. „Dazu hätten Sie es nicht kommen lassen.“
Molly kam zurück, einen Stapel Post in der Hand, darunter auch einen dieser bescheuerten Circuit-City-Flyer, den man mir einfach immer wieder schickte. Sie schloss die Tür hinter sich, richtete die Schutzzeichen auf und nahm Mouse die Leine ab. Der große Hund verschwand gleich wieder in der Küche, wo er sich in seiner Ecke auf den Boden fallen ließ.
Molly legte die Post auf den Küchentisch, warf Morgan einen ruhigen, nachdenklichen Blick zu und nickte. „Was macht der hier, Chef?“, fragte sie.
Ich fixierte sie einen Moment lang, ehe ich mich an Morgan wandte. „Was meinen Sie?“, fragte ich.
Morgan zog lässig die rechte Schulter hoch. „Sie weiß sowieso schon genug, sie hängt jetzt mit drin, und wenn Sie mit mir untergehen, Dresden, gibt es niemanden mehr, der für sie die Verantwortung übernimmt. Das mit ihrer Bewährung kann sie dann vergessen.“
Ich knirschte mit den Zähnen. Molly hatte ein paar Jahre zuvor im Zuge einiger massiver Fehlentscheidungen gegen eines der Gesetze der Magie verstoßen, was der Weiße Rat bekanntlich nicht auf die leichte Schulter nahm: Seine Reaktionen begannen mit Enthauptung und wurden je nach Vergehen zunehmend weniger tolerant. In dem festen Glauben, dass die junge Frau im Kern nicht schlecht und somit rehabilitierbar war, hatte ich mich damals für sie eingesetzt, wobei ich mein eigenes Leben hatte auf die Waagschale legen müssen. Es war mir klar gewesen, was das bedeuten konnte und dass ich mein eigenes Wohlergehen aufs Spiel
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