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Harte Schule

Harte Schule

Titel: Harte Schule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Sie täuschen sich. Er ist Ihnen nicht gewachsen. Sie brechen alle Regeln, das macht ihn hilflos. Dafür hat er keine Re akti onsmuster parat. Er hätte ein halbes Dutzend Frauen haben können, wenn er gewollt hätte, schöne, junge, intelligente. Aber er fürchtet genau diese Lebendigkeit. Er fürchtet das Chaos. Er zieht es vor, Akten zu studieren. Sie glauben, Sie täten ihm was Gutes, wenn Sie sein Le ben aufmischen, aber Sie quälen ihn nur … Halten Sie still!« Sie verband meine Hand routiniert. »Morgen wird’s erst richtig wehtun. Tut mir ja leid, aber Sie sind wirklich selber schuld. Wenn ich Sie mir so ansehe, habe ich den Eindruck, dass Sie die Neigung zur Selbstzerstörung ha ben. Sind Sie als Kind missbraucht worden?«
    »Oh!«
    »Nun. Sie haben es wahrscheinlich verdrängt. Das ist meistens so. Aber Sie leben zu riskant. Kindliche Gewalterfahrung ist meist der Grund, warum bestimmte Menschen ständig Unfälle haben. Erst brechen sie sich den Arm, dann kommen sie bei einem Unfall ums Leben oder werden ermordet.«
    »Ah, tatsächlich?«
    »Marquardt, zum Beispiel, ist bei seinen Reisen durch Indien und Südamerika mehrmals überfallen und ausgeraubt worden. Einmal haben sie ihn fast totgeschlagen. Aber wenn man ihn reden hörte, dann hatte man den Eindruck, als sei der Körper, dem das zugestoßen ist, nicht sein eigener gewesen. Meines Erachtens hatte er schizoi de Züge. Er behauptete, er habe in Peru eine Begegnung mit Außerirdischen gehabt. Er glaubte, er sei beauftragt, für Unterlegene Partei zu ergreifen. Aber was hat er damit für Unheil angerichtet! Einmal behauptete er, er habe einen Fixer in der Klasse, dem man helfen müsse. Otter hatte kaum eine andere Wahl, als die Eltern einzubestellen. Währenddessen schnitt sich der Junge die Pulsadern auf. Es stellte sich heraus, dass der vermeintliche Fixer lediglich Dialysepatient war, daher die Nadeleinstiche. Aber Marquardt behauptete, er habe sich den goldenen Schuss gesetzt. Er gründete jedes Jahr eine neue AG, aber die Schüler liefen ihm weg. Ich habe nie einen Menschen gesehen, der so eifrig Kontakt suchte und dabei so unfähig war, Anschluss zu finden. Im Sommer habe ich mich zweimal die Woche mit ihm zum Joggen getroffen, bis er sich den Fuß verknackste.«
    Müller-Elsäßer knotete die Enden der Mullbinde über meinem Handgelenk.
    »Halten Sie mich nicht für eitel«, sagte sie, »wenn ich Ihnen sage, dass er sich eigentlich hätte in mich verlieben müssen. Es lag nicht daran, dass er schwul gewesen wä re, wie alle behaupteten. Ich glaube nicht, dass er wirklich schwul war. Er konnte nur einfach keine intime Beziehung zu anderen aufbauen. Er redete zu viel. Er konnte jedes Gefühl benennen, aber er empfand es nicht.«
    »Oder«, sagte ich, »es lag daran, dass sein Penis verkrümmt war und er die Liebe für aussichtslos hielt.«
    »So?« Margot ließ meine Hand abrupt fallen und begann, die medizinischen Utensilien in das Schränkchen zurückzustopfen.
    Ich begutachtete den Verband. »Danke. Das können Sie wirklich gut.«
    »Übung«, sagte sie schroff, aber nicht uneitel. »Ich verletze mich selbst immer mal wieder beim Bildhauern, wenn ein Meißel abrutscht. Ich arbeite mit Marmor.«
    »Interessant.«
    Sie musterte mein Gesicht, als plane sie dessen Neugestaltung. »Verstehen Sie denn was davon?«
    »Nein.«
    »Aber Giacometti, den Namen haben Sie schon gehört?«
    »Der mit den Hosentaschen-Skulpturen?«
    »Dann wissen Sie ungefähr, was ich mache.« Sie schloss den Apothekenschrank. »Reiner Eklektizismus, aber man braucht wenigstens kein großes Atelier.«
    Erst jetzt, auf dem Rückweg hinab ins Wohnzimmer, nahm ich ein paar Ehrfurcht gebietende Details des Hauses wahr: schwere Teppiche, antike Möbelstücke, zeitgenössische Ölbilder und Graphiken. Eine unübersichtliche Menge von Türen gestattete den Einblick in pastellfarbene Zimmer mit Spinett und Trockenblumen in Vasen. So viel verdiente auch ein Chefredakteur nicht. Frau Müller musste das Vermögen in die Ehe gebracht haben.
    Die Herren erhoben sich, als wir den Salon betraten.
    »Ah, sie lacht ja schon wieder«, rief Elsäßer. »Setzen Sie sich. Wir haben sicher noch einen Tropfen für Sie übrig.«
    »Vielen Dank«, sagte ich artig, »aber ich glaube, ich gehe besser. Mein Auftritt war nicht sonderlich durchdacht.«
    »Können Sie denn überhaupt fahren mit der Hand?«
    Elsäßer gab sich alle Mühe. Je klarer ihm wurde, dass er mit mir nichts anfangen konnte, desto

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