Hartmut und ich: Roman
für Reihe. Ich saß im Sessel und spielte Grand Theft Auto auf der Playstation.
THE NIGHTFLY
Ich wundere mich schon, wie ich hier in der Wanne liege und die Musik aus Hartmuts Zimmer höre. Das klingt eigentlich nicht nach Hartmut. Hartmut hört Jazz, der nicht zu leicht, Rock, der nicht zu berechenbar, und Klassik, die nicht im Bücherclub zu haben ist. Sicher, er mag auch Punk und HipHop, auch die melodischen Sachen, die wir immer hörten, wenn wir mit Anglermützen vor dem VW-Bus am Meer saßen. Aber was auch immer Hartmut hört, er hört es richtig. Was er mit dem Fernsehen nicht kann, das kann er mit der Musik umso besser. Musik läuft bei ihm niemals nur so. Was jetzt gerade läuft, klingt aber wie »nur so«. Das klingt, als läge ich nicht in unserer WG neben Hartmuts Zimmer im großen Bad in der Wanne, sondern in einem Luxushotel, wo Berieselungsmusik zart aus unsichtbaren Lautsprechern plätschert. Das klingt wie Loungemusik beim Empfang, wie ein Radio in einem New Yorker Taxi, wie Easy Listening, das niemandem wehtun will. Ganz sachtes Schlagzeug, Synthesizer, Piano, mehrstimmige »Ohhs« und »Ahhs«, Gitarren, die so behutsam gestreichelt werden wie die Barthärchen von Katzen. Ich finde es angenehm und tauche ein wenig tiefer in meinen Badeschaum mit Wasserzusatz. Es blubbert. Nebenan der nächste Song. Locker groovend, ich sehe Steve McQueen im Anzug die Feier der Besserverdienenden im Wolkenkratzer betreten, draußen die Silhouette der Stadt. Sicher, so eine Musik leitet immer darauf hin, dass später im Film die Katastrophe auf die Feiernden hineinbricht, aber hier in unserer WG passiert heute keine Katastrophe. Ich bade, es ist Samstag, gut, das Haus könnte jederzeit zusammenbrechen, aber damit leben wir hier ja ebenso selbstverständlich wie die Kalifornier mit der Gefahr des großen Bebens. Ich blase in die Schaumberge, es riecht nach Eukalyptus. Plötzlich geht Hartmuts Tür auf.
»Ach du Scheiße!«, sagt er und sieht mich an.
Ich drehe meinen Kopf langsam in meinem Wannenthron. Hartmut spricht weiter: »Ach du Scheiße!«, sagt er. »Jetzt ist es passiert!«
»Was ist passiert?«, frage ich, während in seinem Zimmer ein ganz leichter Calypso gespielt wird.
»Na, hörst du es nicht?«, sagt er.
»Klar. Schön!«, sage ich.
»Schön?«, ruft Hartmut aus und sieht mich an, als hätte ich gerade beschlossen, Gartenzwerge zu kaufen. Er geht in sein Zimmer und kommt mit der Hülle der Platte zurück. Ein junger Mann ist darauf, der in einem engen, alt aussehenden Aufnahmeraum vor einem antiquarischen Plattenspieler sitzt, in ein noch antiquarischeres Mikro singt und demonstrativ raucht. Donald Fagen steht oben auf dem Cover. The Nightfly . Ich gucke, wie jemand guckt, der in der Wanne liegend vom bloßen Anblick einer ihm fremden Platte auf etwas scheinbar Empörendes schließen soll. Hartmut bemerkt, dass er Entwicklungsarbeit leisten muss, und sagt: »Donald Fagen. The Nightfly. Das ist übelster Früh-80er-Stoff«, sagt er.
»Das ist schöner Früh-80er-Stoff«, sage ich. »Klingt außerdem mehr nach 50er und 60er.« Gerade beginnt ein Song, der munter swingt, mit Hammond-Orgel. Die Gesangsmelodie erinnert an Sting.
Hartmut zittert mit den Augen. »Verstehst du denn nicht? Ich habe diese Platte heute Mittag im Mensa-Foyer gekauft. Gebraucht. Für vier Euro.«
»Guter Kauf«, sage ich und wasche demonstrativ mit dem Schwamm meinen Arm, um zu signalisieren, dass ich gerade bade. Die Hammond-Orgel erinnert mich an Helge Schneider. Ich muss grinsen. Hartmut seufzt. »Du raffst es nicht, was? Ich habe noch nie, und ich betone, noch nie , eine Platte einfach so gekauft. Ich kannte Donald Fagen doch gar nicht. Weißt du, warum ich die gekauft habe?«
Ich schüttele mit dem Kopf.
»Weil mir das Cover gefiel!«, schreit er, rollt mit den Augen und spricht es so aus, als sei er augenblicklich auf die Existenzstufe einer Hochhaus-Silo-Mutter ohne Hauptschulabschluss und mit Schalke-Uhr an der Küchenwand herabgesunken. Er dreht die Plattenhülle um und zeigt mir die Rückseite. Zwei alte Vorstadthäuser im Dunkeln, die Silhouetten von Bäumen dahinter, eine Antenne auf dem Dach, Licht aus einem Fenster unter dem Sims. Erstklassig stimmungsvolle Photographie. »Kann ich verstehen, dass du das nach dem Cover gekauft hast«, sage ich und nehme einen Keks von meiner Ablage neben der Wanne.
»Aber denk doch mal«, sagt Hartmut, »seit ich zwölf bin, habe ich mich mit Musik beschäftigt.
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