Hartmut und ich: Roman
zusammenschreckt, sondern nur Augenbrauen und Lippen noch näher zueinander bringt. Wenn das so weitergeht, werden ihre Augen an diesem Abend noch völlig in diesem Schlitz verschwinden. Sie würde ein gutes Coverbild für Hannos Band hergeben. Hartmut atmet schwer und geht vorsichtig in den Konzertraum, als wolle er testen, ob ein weiteres Beiwohnen von Hannos Konzert die Grenze zur Misshandlung der kleinen Freundin schon überschreitet. Knapp über der Türschwelle löst er sich aus ihrem Blick und stolpert hinein.
Nach vier Songs des zweiten Sets kommen die Bullen. Ich bin der Erste, der sie durch die Stahltür kommen sieht, und ich kann mir vorstellen, dass Hartmut nun für die nächsten zwanzig Jahre nackt für Bettina spülen muss. Die Band hört auf zu spielen, und ehe der Oberwachtmeister etwas sagen kann, brüllt der Hepatitis-Mann von seiner Couch unverständliche Abneigungsbegriffe in Richtung Beamte. Die Menge erinnert sich daran, dass sie prinzipiell gegen die Bullen sein muss, und ein Raunen macht sich breit, eine Welle allgemeinen Unmuts, aus der nur selten eine klare Beschimpfung hervorbricht. Es klingt eher nach Pflichtraunen. Wer nicht mitraunt, ist ein Spitzel. Die Bullen müssen denken, dass Bettina von dieser Ansammlung Lumpen entführt wurde. Sie ist bei Hartmut eingehakt, aber ich sehe, dass es eher er ist, der sich bei ihr eingehakt hat. Ich kenne Hartmut. Hartmut will nach Hause. »So, Freunde, Feierabend!«, sagt der Wachmann, und das Geraune wird lauter. Der Rastamann tut so, als würde er wie der Betreuer eines gefährlichen Psychos den Hepatitis-Mann noch eben so davor zurückhalten, von der Couch aufzuspringen und dem Bullen das Gesicht abzubeißen. Der kleine Punk sitzt am Bühnenrand und schweigt, den Iro nach unten geneigt. Hanno beginnt, leise mit dem Beamten zu diskutieren, und so langsam kehrt Stille ein im Raum, alle wollen wissen, wie dieser Machtkampf ausgeht, obwohl es von vornherein klar ist. Plötzlich geht die Tür vom Klo auf, und Jörgen kommt heraus, eine kleine Schwade von Dope-Geruch hinter sich herziehend. Seine Augen sind in der letzten Dreiviertelstunde um einiges dicker geworden, und sein Lächeln ist längst zu Übermut mutiert. »Das glaubt ihr nicht!«, sagt er, und alle hören ihm zu. »Die längste Kackwurst der Welt!« Es wird stiller. Selbst Hanno und der Bulle hören auf zu sprechen. »Ich hock so über dem Klo und als die Wurst mit dem einen Ende schon den Kloboden berührt, steckt das andere Ende immer noch in meinem Leib. Vertikal. Ich musste ganz sachte nach vorne rücken und die Wurst am Rand abstreifen, um mich überhaupt von ihr befreien zu können. Hat mal jemand Papier und Desinfektionsmittel?«
Stille.
Jetzt sind alle in ihrem Erstaunen vereint.
Der kleine Punk, der Rastamann, die Bullen, die Band auf der Bühne, die sich an ihre Instrumente klammert, und sogar der Hepatitis-Mann, der sich auf seiner Couch nach hinten dreht und sehen will, wer ihm da solche Konkurrenz macht. Plötzlich löst sich Bettina von Hartmuts Arm, geht auf die Bullen zu, fragt die Beamten, ob es ihnen was ausmachen würde, sie nach Hause zu fahren, da sie hier niemanden kenne, der sie nach Hause bringen würde, und geht schon mal vor zum grünweißen Wagen, der draußen wartet und sein blau blitzendes Licht durch die Fenster schickt. Die erstaunten Gesichter der Szene werden hell und dunkel, hell und dunkel, hell und dunkel im Geflacker des stummen Blaulichts, und der Gestank im Raum kommt mir wieder in den Sinn. Der Bassist stöpselt mit einem lauten »Pumpf« den Bass von der Box ab und wickelt sein Kabel auf.
Hartmut musste Bettinas Kredit nicht auszahlen. Bettina kehrte nicht zurück. Sie schickte ihm zwei Taschenbücher, die sie von ihm geliehen hatte, als Büchersendung, »Post darf öffnen«. Hannos Band löste sich drei Wochen später auf, und er schloss sich einer Stoner-Rock-Combo an, die ihre Auftritte fernab der autonomen Szene hatte. Hartmut saß wieder auf der Couch, las den Spiegel oder redete von Kant. Von Anarchisten und Punks hatte er erst mal die Schnauze voll. Ich erwischte ihn dabei, wie er an einem Sonntag das Wohnzimmer zu putzen begann, bis hinter die Couch, wo es auch bei uns so aussah, wie es in dem Konzertraum ausgesehen hatte. Hartmut wienerte und wienerte. Das Zimmer begann zu duften. Es war aussichtslos. Seine nächste Freundin war ein Gruftie und brachte eine Ratte mit. Die Ratte kackte hinter die Couch. In vielen kleinen Punkten. Reihe
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