Hartmut und ich: Roman
als wollte sie einen Knicks machen und konnte es sich gerade noch mal verkneifen. Ich habe vergessen, was Bettinas Vater macht. Jedenfalls leben sie am Stadtrand, haben ein irrsinnig großes Haus und ein paar Pferde auf dem Hof, an dem ich hin und wieder mit dem Rad vorbeikomme, wenn es mich weit hinaus verschlägt und ich so lange fahre, bis ich vergessen habe, dass ich irgendwann mal umdrehen muss. »Ich hoffe, ihr habt euch was zu trinken mitgebracht, wenn nicht, gibt’s da hinten Bier.«
»Ich nehm eins!«, sage ich. Hartmut nimmt keins, zieht eine Flasche Apollinaris Lemon aus der Tasche und lächelt stolz. Bettina nimmt die Flasche, ohne ihn zu loben. Irgendjemand macht eine CD an, und aus den Boxen dröhnt plötzlich Hardcore-Gebrüll. Bettina zuckt ein wenig zusammen und gibt Hartmut die Flasche zurück. Einen Schritt neben der Bar ist das Klo, nur durch eine dünne Holzwand vom Rest des Raumes getrennt. Wenn man geradeaus von der Bar hinfällt, landet man mit dem Kopf direkt in der Schüssel. Klobrille und Deckel fehlen. Eine Klobürste steht knietief in braunem Wasser, das sich in dem Plastikständer angesammelt hat. Ich öffne mein Bier.
Eine halbe Stunde später beginnt Hannos Band. Der Raum hat sich mittlerweile mit Menschen gefüllt, die allesamt schon betrunken sind oder nach dem Schimmel riechen, der sich durch die Wand gefressen hat. Bettina und Hartmut stehen in der Menge wie zwei blühende Tulpen auf grauem Asphalt. Hartmut hat heute seine Cordhose und ein schlichtes Hemd angezogen, was er immer tut, wenn er Freundinnen ausführt, die nicht gerade blaue Haare und schwarze Latexhosen tragen. Ich stehe vor ihnen am Rand des leeren Moshpits und nippe an meinem Bier. Nach drei Songs betritt ein grauhaariger Mann das leere Rund vor der kleinen Bühne und fängt an, undefinierbare Gymnastikübungen zu machen. Er trägt nur eine Jeans, und ziemlich schnell bilden sich große Schweißperlen auf seinem tätowierten Oberkörper. Er hält die Arme weit vor sich, als umarme er einen Medizinball, geht halb in die Knie und beginnt dann mit Fauststößen in achtfacher Zeitlupe. Hanno ist irritiert und hat Schwierigkeiten mit dem Greifen der Akkorde, und die Umstehenden fangen an zu grinsen. Der Mann erinnert mich an Robert De Niro in Taxi Driver . Sein zähes Schattenboxen wirkt wie unter Wasser gebremst. Ich stelle mir vor, wie er sich plötzlich umdreht und mir mit einem altmodischen Trommelrevolver die Birne wegpustet. Ich trinke schneller. Als der Taxi Driver die Tanzfläche verlassen hat, betritt ein schlaksiger junger Mann den Laufsteg vor der Bühne und beginnt, sich langsam auf dem Boden zu wälzen. Draußen hat es angefangen zu regnen, und der Boden ist durch die Schuhe der Anwesenden zu einem kieselig-schwarzen Stück dreckiger Erdnussbutter geworden. Der Schlaksige drängt sich wie ein Limbotänzer unter unsichtbare Stangen, lässt sich dann auf den Rücken fallen, steht wieder auf, wirbelt mit der Bierflasche um sich und reibt sich den Dreck mit ekstatischem Blick auf Arme, Achseln, Ohren und Nasenlöcher. Ich höre, wie Bettina hinter mir Hartmut zum ersten Mal etwas ins Ohr brüllt. »Der hat bestimmt Hepatitis!«, schreit sie, und ich verschlucke mich vor Lachen an meinem Bier. Der Limbo-Mann biegt sich weiter im Lärm von Hannos Band und die Flasche hängt an seiner Hand wie ein Sitz am Kettenkarussell, dem bereits eine der Ketten fehlt. Dann lässt er die Flasche fallen und versucht, die Scherben beiseite zu schieben, doch es gelingt ihm nicht. Er ist zu betrunken, und nur das beherzte Eingreifen des muskulösen Rasta-Mannes von der Treppe verhindert, dass er mit offenen Handflächen in die Scherben fällt. Der Rasta-Mann grinst stolz in die Menge, als er den Limbotänzer, dessen Augen für einen Moment weiß geworden sind, auf die Couch befördert.
Gegen halb elf ist der erste Teil des Programms vorbei, und Hartmut muss ganz schnell mit Bettina zum Auto gehen. Ich stehe neben der Bühne und sage nette Sachen zu Hannos Gitarrenspiel, weil es zum Rest der Darbietung nichts Nettes zu sagen gibt. Der Barmann lässt wieder Hardcore von CD laufen, und Hanno sagt, dass sie in einer Stunde noch mal spielen werden. Sie hätten nur schon so früh angefangen, um einmal garantiert ohne Bullenpräsenz spielen zu können. Ich nicke verständig und grinse. »Wo ist Hartmut?«, fragt Hanno, und ich sage: »Diskutieren.«
Ich muss pinkeln, und so rede ich mir ein, dass der Busch ganz vorne am Straßenrand
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