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Hartmut und ich: Roman

Hartmut und ich: Roman

Titel: Hartmut und ich: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann
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statt, einem Viertel, das nur aus Spielhallen, Kiosken, Kneipen und billigen Imbissläden besteht. Vor einem Jahr wurde hier ein Mann aus dem fahrenden Auto heraus erschossen, es war das erste Drive-By-Shooting in Deutschland, seitdem ist das Viertel berühmt. Der Film läuft in vier Teilen, und dazwischen lesen Dichter und Dichterinnen hinter einem kleinen Pult vor der Leinwand Lyrik. Die Besucher dieser Lesung kommen nicht aus dem Dortmunder Norden, denke ich. Die Menschen hinter all diesen Fenstern zwischen den Spielhallen und Kneipen gehen nicht auf Dichterlesungen. Sie trinken, sie essen, sie hoffen auf den Jackpot, der ihnen aus jedem zweiten Spielhallenfenster entgegenflimmert, und sie trinken weiter, wenn sie ihn nicht gewonnen haben. Sie sagen sich, dass sie hier nur vorübergehend wohnen, und bleiben ein ganzes Leben. Sie haben alte, schmierige Küchen und Fernsehzeitungen auf Holztischen mit braunen Kacheln, den Aschenbecher daneben. So denke ich über die Menschen, während Hartmut in dem kleinen Foyer die Karten bezahlt und zwei Flaschen Bier kauft, von denen er mir eine reicht. Eine Treppe mit flachen Stufen führt zum Kinosaal runter, Männer in Mänteln kaufen umhüllte Erdnüsse, und eine Frau am Geländer sagt, dass sie sich in ihrer Arbeit seit einiger Zeit eher mit formalen Experimenten beschäftigt. Sie hat ganz kurze graue Haare, trägt eine Holzperlenkette über dem Pulli und einen roten Schal. Ich denke an Hartmut und seinen abgegriffenen Band von Gottfried Benn, der neben der Badewanne liegt. Ich vermute, dass Benn sich hier nicht wohl gefühlt hätte. Ich nehme einen Schluck aus der Flasche und gehe mit Hartmut die Treppe hinunter.
    Während wir uns in die weichen, tief liegenden Sitze fläzen und Hartmut winkend seinen Dichterbekannten begrüßt, der in der ersten Reihe sitzt und mit Blättern fuchtelt, heißt der Moderator des Abends die Gäste willkommen. Er tut das schon seit geraumer Zeit, doch hat das bislang keiner mitbekommen, da er so leise spricht, dass selbst meine kleine Cousine beim Rezitieren des Weihnachtsgedichtes mit hinter dem Rücken verschränkten Armen dagegen wie ein afrikanischer Brüllaffe wirkt. Als seine Dankesbekundungen ob unserer Gnade, an diesem Abend der Kultur einen Besuch abzustatten, abgeklungen sind, beginnt der erste Teil der Filmvorführung. Hartmut lehnt sich im Sessel zurück und prostet mir zu. Wir sehen eine weitläufige Landschaft mit Berghängen, Felsen und Grünflächen vor einem klaren Horizont. Nepal vielleicht. Indien. Ein junger Mann trägt eine quadratische Box aus Holz auf dem Rücken, in der er einen alten Mann mit sich herumschleppt. Der Alte hat wirres Haar und spielt wie ein Kind mit der Rassel, während er gleichförmige, leicht hypnotische Gesänge vollführt. Ayihayhiayhiayhi … es hallt durch die Berge und klingt, wie man es in einem Kunstfilm in der Kulisse Nepals erwartet. Hartmut sinkt etwas tiefer in den Sessel und scheint brummig. Hartmut hat früher viel unter seinem Vater gelitten, der auch immer unschuldig war wie ein Kind und gerade deswegen seine Umwelt in den Wahnsinn treiben konnte. Hartmut trägt auch noch seinen Vater mit sich umher. Hartmut zieht an der Flasche. Was folgt, sind kurze Filme mit Musik, in denen ein Gedicht entweder aus dem Off gesprochen oder in die Handlung eingebaut wird. Es geht um Freiheit und die Liebe zum Leben, als eine Gruppe behinderter Menschen gezeigt wird, die sich auf einer idyllischen Blumenwiese tummeln. Trotzdem klingen die Worte seltsam melancholisch. Als wäre jede Hoffnung zugleich auch eine Klage, jede Möglichkeit ein bloßer Seufzer, dass man sie überhaupt ergreifen muss. Vielleicht liegt es auch an mir. Ich kann mich schlecht konzentrieren bei Gedichten, und die Musik macht mich betroffen. Ich schiele rüber zu Hartmut, um zu sehen, wie er reagiert. Er hält sich an der Flasche fest und schaut starr auf die Leinwand. Die Frau aus dem Foyer, die sich in ihrer Arbeit seit einiger Zeit eher mit formalen Experimenten beschäftigt, schlägt ihren Schal nach hinten. Niemand flüstert. Nach einiger Zeit verdunkelt sich das Bild, und die Poesie vor der Leinwand fängt an. Als Erster von fünfundzwanzig angekündigten Poeten besteigt ein graumelierter Herr mit Pulli und Weste die Bühne. Er streckt sich durch und kündigt an, über ein aktuelles Thema reden zu wollen: Generationengerechtigkeit. Ich höre Hartmut seufzen. Der Herr mit dem Pulli spricht Verse. Sie klingen wie Viervierteltakt

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