Hartmut und ich: Roman
mit Endreim, mahnend spricht er sich durch eine Art WDR-4-Variante politischer Enttäuschung und regt sich auf über die junge Generation, die den Omas die Rente wegnimmt, wo sie doch dieses Land so tapfer wieder aufgebaut haben. Hartmut rammt seine Bierflasche in den Halter und schnauft hörbar. Die Frau, die sich in ihrer Arbeit seit einiger Zeit eher mit formalen Experimenten beschäftigt, dreht sich zu uns um. Der enttäuschte Generationenkonfliktler endet. Höflicher Applaus. Es folgt ein Gedicht über Markenfetischismus, Konsumwahn und Handybesitzer. Hartmut schüttelt den Kopf und kratzt sich nervös am Unterarm. Ich werde langsam unruhig. Man weiß nie, wie Hartmut reagiert, wenn man mit ihm in der Öffentlichkeit ist. Er nimmt noch einen Schluck aus der Pulle und steckt sie wieder in den Halter zurück. Als Nächstes ist eine Frau in den Fünfzigern dran, die ein Gedicht über den Herbst vorliest, in dem von Begriffen wie grau, trüb, Abschied, Mondschein, Herz, Seele, Schleier und Fenster Gebrauch gemacht wird, sodass ich mich irgendwie für die Frau verantwortlich fühle. Als wolle man ihr sagen, dass man so nicht dichten kann, obwohl man ja selber keine Ahnung von der Materie hat. Hartmut hat sie. Und Hartmut wird immer zappeliger. Nachdem die Frau kokett angekündigt hat, »im nächsten Gedicht einfach nur frech« zu werden, und dann davon dichtet, wie sie mit einem räudigen Mann ein wenig gespielt hat, bevor sie ihn mit aufs Hotelzimmer nahm, wobei die letzte Zeile vom Bild eines »feuchten Spitzenhöschens« Gebrauch macht, betritt ein junger Mann mit Pferdeschwanz die Bühne und reimt über den Krieg. Um Macht ginge es und Profit, um kalte Gier und kleine Männer, die in den Tod getrieben werden. Wir erfahren, dass der Krieg unsagbares Leid bringt, und ein Dorf steht plötzlich in Flammen, Tränen kommen auch noch vor, und ich würde mich nicht wundern, wenn der Mann gleich zu Spenden aufruft. Hartmut presst kurz seinen Kopf in die Hände, als wolle er sich die Augen tiefer in den Schädel drücken, zerzaust dann seine Haare, nimmt die Flasche, nimmt meine Flasche und geht neues Bier holen. In Wirklichkeit braucht er dringend Abstand zum Geschehen. Ich bin besorgt.
Die Dichter sind erst mal fertig, und der Film geht weiter. Wir sehen eine Hochzeitsgesellschaft. Die Kamera fährt über Kuchengabeln, Spießer aller Altersklassen, gestelzte Gespräche und die unvermeidliche braunorange Cremesuppe. Eine harte, unnachgiebige, abgehackte Stimme teilt uns aus dem Off mit, dass sie ihre Onkel, Tanten, Neffen, Nichten und sonstigen Verwandten trotz ihrer Liebe zu Lebzeiten im Jenseits niemals wiedersehen will. Es ist ein Gedicht von Ernst Jandl, ich habe es schon mal in der Wanne gelesen, in einem von Hartmuts Büchern. In Kombination mit den Bildern tut die Gehässigkeit gut. Hartmut, der soeben die zwei neuen Flaschen Bier geöffnet hat, zeigt auf den Bildschirm und nickt mit dem Kopf, wie er es tut, wenn er mich im Fernsehen auf Reportagen über Wehrsportgruppen oder Nachtwächter aufmerksam machen will. Ich nicke und lache. Jandl gefällt uns. Danach ein Raum mit Hochzeitskleidern. Drei von ihnen sind auf Podesten über Ständer drapiert, ein Dutzend weitere hängt im Hintergrund auf einer Stange. Der Ausstellungsraum wirkt unfassbar kalt. Man riecht förmlich den Linoleumboden. Die Decke besteht aus einem schmierigen, gläsernen Oberlicht. Ich stelle mir vor, dass sich dieser Raum in einem kleinen industriellen Anbau auf matschigem Boden befindet. Draußen ist es immer dunkel. Wer hier ein Kleid aussucht, hat schon verloren. Die Stimme setzt ein und liest ein paar Zeilen von Heiner Müller. Ich weiß das, weil Hartmut schon nach wenigen Momenten prustet und »Heiner Müller!« sagt, als wäre allein das Aussprechen dieses Namens Verachtung genug. Hartmut hält nichts von Heiner Müller. Es gibt ein paar Künstler, die Hartmut richtig hassen kann. Ich glaube, das ist irgend so’n emotionales Ding, höchste Antipathie, die keine akademischen Gründe braucht. Die Stimme spricht zu seiner Geliebten und erklärt ihr, dass im Grunde alles zwecklos ist. »Ich kann dir den Himmel nicht zu Füßen legen«, heißt es, »denn er gehört mir nicht.« Eine Flamme kommt plötzlich aus dem Ausschnitt des Kleides, das Kleid verbrennt, und das Gerüst, auf das es aufgezogen war, biegt sich weich zur Seite wie ein schmelzender Cyborg. Der Mann spricht weiter zu seiner Angebeteten und erklärt ihr, dass er ihr nicht
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