Hartmut und ich: Roman
reagiere. Auf den Gedanken, eine Doku-Soap drehen zu lassen mit mir als Figur. Auf 1000 Euro am Tag. Und Hartmut hatte alles von Anfang an geplant. »Die ›Perle‹ war auch eine Filmstudentin«, sagt Hartmut jetzt. »Wie alle, die hier unsere Wohnung zum Swingerclub umfunktioniert haben.«
Ich sitze im Sessel und weiß nicht, wie mir geschieht.
»Ich hoffe, wir bekommen für diesen Film einen Preis. Es ist unsere Abschlussarbeit. Kunstwerk und Verhaltensforschung zugleich. Wir würden ihn auch öffentlich zeigen. Mit deiner Erlaubnis, selbstverständlich«, sagt der Hornbrillenmann. »Du hast dich gut geschlagen«, setzt der Rastamann nach. »Hast dich nicht unterkriegen lassen, bist du selbst geblieben. Respekt!« Ich habe das Gefühl, als würde ich im Sessel wie in Treibsand versinken. Ich sehe Hartmut an, sehe die Studenten an. Dann lache ich, kann gar nicht mehr aufhören zu lachen, lache wie sonst nur, wenn ich meine Anfälle beim Kiffen kriege, und sage: »Okay, Hartmut, das war aber jetzt die letzte Aufregung für die nächsten Jahre, okay?« Hartmut lächelt und sagt: »Sagen wir, für dieses Jahr, ja?«
»Genau«, sagt der Hornbrillenmann. »Sonst wird es zu langweilig in der WG. Und das kann ja keiner wollen.«
Hartmut sagt, dass wir jetzt alle erst mal Pizza und Wein bestellen sollten. Der große Filmstudent von der Nachtschicht montiert die versteckte Kamera ab.
CHANCEN NUTZEN
»Man muss seine Chancen nutzen!«, sagt Hartmut und klaubt noch ein Buch vom Wühltisch vor der Buchhandlung. Wir haben Mitte November und wollten eigentlich Weihnachtseinkäufe machen. Dieses Jahr mal früh. Dieses Jahr wirklich. Doch mit Hartmut kommt man nicht vorwärts. Er wiegt den Haufen Bücher in seinen Armen und strahlt. Es ist unmögliches Zeug dabei. Anthologien mit Titeln wie »Wörter in der Hektik der Zeit«, grauenvoll gestaltet, in Comic-Sans-Schrift gedruckt, mit Lyrik von Namen wie Elisabeth Koch-Denkhof, Marianne Spettnagel-Schneider oder Martina Merks-Krahforst. Ein Bildband zu Straßenbahnen, ein muffig riechendes Taschenbuch namens »Welt am Abgrund« und ein Politband aus den späten Achtzigern mit einem ernst blickenden Mann auf dem Cover, der uns fragt, ob wir noch zu retten sind. Hartmut wohl kaum. Er zahlt seine drei Euro, lässt die Bücher in die Tüte gleiten und steht wenig später zappelnd im orangen Licht einer Supermarktauslage. Süßigkeiten zu Superpreisen liegen dort in gelbem Plastik, exotische Schokoriegel und Karamellbalken mit abstrusen Namen, das Stück zu 20 Cent. »Chancen nutzen«, sagt er wieder, als er der Kassiererin das Geld gibt und mich ansieht, schnell und abgehackt mit dem Kopf wippend. »Du hast nicht vergessen, warum wir in die Stadt gegangen sind, oder?«, frage ich ihn, als wir die Fußgängerzone weitergehen. »Meim. Meihmaftsgefenke!«, antwortet er und muss husten, krümmt sich, wackelt bedenklich mit seiner Büchertüte, richtet sich röchelnd wieder auf und grinst mich mit einem Karamellmund an, der so verklebt ist wie die zugewachsenen Lippen aus Matrix. Er muss lachen. »Etwas klebrig!«, sagt er und wischt sich mit einem Taschentuch den Zuckerschnodder ab. »Bier?«, frage ich, lasse meinen Rucksack nach vorne rutschen und ziehe zur Hälfte eine Dose aus der Öffnung. Hartmut nickt, stößt mit mir an und richtet den Blick wieder geradeaus, als wolle er sich demonstrativ auf die Weihnachtseinkäufe konzentrieren. »Ist schon richtig, dass wir dieses Jahr mal früher losgehen«, sagt er, doch bevor er wieder von seinen Chancen anfangen kann, frage ich ihn ab: »Wo wollen wir alles hin?«
»Plattenladen, Parfümladen, Kunstladen, Hussel und irgendwohin, wo’s Duftlampen gibt!«, antwortet er wie beim Appell.
»Sehr gut!«, nicke ich kichernd und trinke an meinem Bier. Als ich wieder neben mich blicke, ist Hartmut verschwunden. Ich finde ihn zwischen einer kleinen Frau und einem lustlosen Mann in der Auslage eines Secondhandshops, er hat einen viel zu großen, grobmaschigen Norweger-Pulli übergestreift und eine groteske Mütze mit wollenen Ohrschützern auf dem Kopf, die wie Dackelohren hinabhängen. Seine Hände stecken in Fäustlingen. Die alte Registrierkasse klingelt. »Die Chance musste ich nutzen!«, sagt er fast ein wenig entschuldigend und schließt sich wieder unserem Weg an. Es fällt ihm schwer, mit Fäustlingen die Dose zu hantieren, und die ersten Biertropfen kleckern in die Maschen des Pullis. »Komm, hier lang, kleine Abkürzung zum
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