Hartmut und ich: Roman
Plattenladen!«, sagt er und biegt in eine kleine, spärlicher beleuchtete Nebenstraße ein. Erst jetzt fällt mir auf, wie kalt es ist. Ich kann unseren Atem sehen. »Welche CD musstest du noch mal für deine Mutter besorgen?«, frage ich, doch Hartmut läuft wieder nicht neben mir, sondern winkt mir von der anderen Straßenseite zu. Es wirkt, als hätte jemand einen schnellen Filmschnitt gemacht. Ich stutze einen Moment, dann renne ich rüber. »Der Plattenladen ist auf dieser Straßenseite!«, sage ich.
»Weißt du, wie selten in den heutigen Städten die Straße frei ist?«, fragt Hartmut empört. »Die Chance musste ich nutzen!« Er sieht mich wieder so an, als wären seine Worte der Hort der Vernunft und ich ein penetranter Nörgler ohne Blick für das Wesentliche. Dann stürzt er in einen Busch. »Hach, verdammt, hier!«, stöhnt er, mit Kopf und Oberkörper komplett in dem kratzigen, schwarzen Geäst vergraben. »Ich krieg sie nicht zu fassen«, fährt er fort, und bevor ich ihn fragen kann, was er nicht zu fassen kriegt, schimpft er über die Fäustlinge. Nach ein paar weiteren Minuten kommt er rückwärts aus dem Busch gekrochen, dreht sich zu mir um und hält mir eine Glasflasche entgegen, als wolle er für die Beute geehrt werden. Die Büchertüte ist angerissen, ein paar Fäden hängen aus dem Secondhand-Pulli wie Haare aus einem ungekämmten Straßenköter. »Hartmut … «, sage ich. »Mein lieber Mitbewohner«, sagt er, »auch wenn dieses gute Stück nur fünfzehn Cent wert ist, so ist es für meine Verfassung doch wichtig, keine Chance auszulassen, die sich mir anbietet. Ein Geldstück hättest du auch nicht einfach liegen lassen. Prinzipien, mein Lieber, es geht hier um Prinzipien. Da, abgeben!« Er deutet mit der im Laternenlicht glitzernden Flasche auf eine Trinkhalle an der nächsten Ecke, seine wollenen Ohrschützer wippen leicht umher. Der Mann in der Trinkhalle sieht aus, als würde er den kleinen Kasten nie verlassen. Ein winziges Fenster steckt in der Front, es wirkt, als wolle er den Verkaufsraum nur zum Wohnen benutzen, eine von meterweise Waren abgedichtete Höhle im Auge der Stadt, deren bloße Verpflichtung, wenigstens theoretisch für Kunden zur Verfügung zu stehen, in dem winzigen Schlitz Ausdruck fand, durch den Hartmut jetzt seine Flasche steckt und halb in den Raum hineinwedelt, als der alte, grimmfaltige Mann nicht reagiert. Ein Fernseher läuft im Inneren. Gesäusel. Das Gesicht des Mannes erscheint im Schlitz. »Was wollen Sie?«, krächzt er. Es wirkt wie eine Szene aus Discworld oder Baphomets Fluch . Ich will wieder an die Playstation und zu Yannick auf die Couch. Das gibt eh nichts mit dem Weihnachtseinkauf. »Einmal Pfand bitte!«
»Die Flaschen nehmen wir nicht!«
»Wie, diese Flaschen nehmen Sie nicht?«
Ich seufze. Ich weiß, dass es jetzt wieder losgeht. Ich setze mich auf einen dreckig bepflanzten Betonkasten und öffne die zweite Dose.
»Diese Flaschen nehmen wir nicht, was ist daran nicht zu verstehen?«
»Was daran nicht zu verstehen ist? Was daran nicht zu verstehen ist!? Hah!« Hartmut rollt mit den Augen und dreht sich zur Straße um, als könne er sich dort in die Kamera einer Enthüllungsreportage drehen: ›Servicewüste deutsche Trinkhallen. Wie langgesichtige alte Männer in Schlitz-Kiosken ihre Kunden ausnehmen.‹
»Was sagst du denn dazu?«, fragt mich Hartmut. Ich zucke wie immer hilflos mit den Schultern und sehe mich um, ob uns keiner sieht. Hartmut dreht sich wieder zum Schlitz.
»Jetzt hören Sie mal zu … «
»Wir haben diese Marke nicht!!!«, unterbricht ihn der Schlitzmann unwirsch.
»Die Marke ist völlig egal!«, brüllt Hartmut jetzt zurück. Dann atmet er. Der alte Mann bleibt still, Hartmut ist noch im Vorteil. »Wissen Sie eigentlich, was ich durchgemacht habe, um an diese Flasche zu kommen?« Ich stelle mir vor, wie die Szene für den Mann im Kiosk aussehen muss. Draußen in der Kälte steht ein Mann in zerfetztem Norwegerpulli vor dem Schlitz, schmieriges Leergut in den Fäustlingen und eine Mütze mit wollenen Ohrschonern auf dem Kopf. Und dieser Mann spricht weiter: »Nein, das wissen Sie wahrscheinlich nicht. Wie könnten Sie auch?«
»Hartmut … «, quengele ich.
»Ich bin noch nicht fertig!«, sagt Hartmut.
»Ich rufe jetzt die Polizei«, sagt der Mann hinter dem Schlitz.
»So, ja, tun Sie das. Dann erklären Sie ihnen aber, dass Sie gerade Ihre gesetzlich verbriefte Verpflichtung auf Rücknahme normgleicher Flaschen
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