Hasenherz
einen Augenblick? Er bekommt so selten Besuch. Ich glaube, das ist das Schreckliche am Lehrerberuf. Man erinnert sich an so viele, aber so wenige erinnern sich an einen.»
«Aber klar, ich möchte ihn sehn.»
«Dann kommen Sie mit.» Sie gehen die Korridore entlang, und sie sagt: «Ich fürchte, Sie werden ihn kaum wiedererkennen.»
Ihm geht das nicht recht ein, er ist vollauf damit beschäftigt, zu ergründen, ob ihre Haut wirklich so aussieht, als sei sie aus einer Unzahl kleiner Eidechsenhäute zusammengeflickt. Aber er sieht nur ihre Hände und ihren Nacken.
Tothero hat ein Zimmer für sich allein. Erwartungsvoll bauschen sich weiße Gardinen um sein Bett. Auf den Fensterbrettern stehen grüne Pflanzen und produzieren pflichtschuldig Oxygen. Schrägge stellte Glasscheiben saugen die Düfte des Sommers ins Zimmer. Fuß tritte knirschen auf dem Kies unten.
«Lieber, ich habe dir jemanden mitgebracht. Wie durch ein Wunder hat er draußen gewartet.»
«Hallo, Mr. Tothero! Meine Frau hat das Baby gekriegt.» Er sagt dies und geht mit forciertem Schwung aufs Bett zu; der Anblick des alten Mannes, der da eingesunken in den Kissen liegt, mit schlaffer Zunge im schief gezerrten Mund, erschüttert ihn. Totheros Gesicht ist mit weißen Stoppeln gesprenkelt und ganz gelb, und zu beiden Seiten seines flachen Rumpfes stöckern ihm dürre Handgelenke aus den bonbonpapierge-streiften Pyjamaärmeln heraus. Rabbit streckt ihm die Hand hin.
«Er kann die Arme nicht heben, Harry», sagt Mrs. Tothero. «Er kann sich nicht bewegen. Aber reden Sie mit ihm. Er kann sehn und hören.» Ihre Stimme hat einen süßen, langmütigen Klang, und ein singender Unterton schwingt mit, der unheilvoll ist; wie ein endloses Summen in leeren Räumen.
Da er seine Hand nun einmal ausgestreckt hat, legt er sie mit sanftem Druck auf die von Tothero, die mit dem Rücken nach oben daliegt. Und diese Hand ist trotz aller Ausgedorrtheit warm unter dem schütte ren, stacheligen Haarvlies, und sie bewegt sich zu Harrys Entsetzen, dreht sich tölpelhaft herum und bietet ihm die Innenfläche dar. Harry zieht seine Hand weg und läßt sich auf den Stuhl neben dem Bett fallen. Die Augäpfel des Alten flattern aufgestört hin und her, und er dreht den Kopf zollweit seinem Besucher zu. Seine Wangen sind so eingefallen, daß die Augen heraustreten. Reden, er muß reden. «Es ist ein kleines Mädchen. Ich wollte Ihnen noch danken» – er spricht laut – «ich wollte Ihnen danken, daß Sie mir damals geholfen haben, daß ich wieder mit Janice zusammenkomme. Das war sehr nett von Ihnen.»
Tothero zieht die Zunge ein und dreht sein Gesicht und sieht seine Frau an. Ein Muskel unter seinem Kiefer spannt sich, seine Lippen ziehen sich zusammen, und sein Kinn runzelt sich unaufhörlich, be wegt sich wie ein Puls: er will etwas sagen. Ein paar gedehnte Vokale kommen heraus; Harry dreht sich zu Mrs. Tothero um, er denkt, sie könne die Laute vielleicht entschlüsseln, aber zu seinem Erstaunen sieht sie ganz woanders hin. Sie sieht aus dem Fenster, auf einen leeren grünen Hintergarten hinaus. Ihr Gesicht ist wie eine Photographie.
Bekümmert sie dies alles gar nicht? Wenn's so ist, soll er Tothero etwas von Margaret erzählen? Aber er weiß nichts von Margaret zu berichten, das Tothero glücklich machen könnte. «Ich weiß wieder, was ich zu tun habe, Mr. Tothero, und ich hoffe, Sie sind bald wieder auf den Beinen und können hier raus.»
Totheros Kopf wendet sich verärgert und rasch ab, der Mund schließt sich, die Pupillen postieren sich zu einem halb schielenden Blick, und er sieht in diesem Moment so präsent aus, daß Harry denkt, er werde gleich etwas sagen, und dies kleine Zögern sei nur wieder der Trick des alten Pädagogen, der so lange wartet, bis er der ungeteilten Aufmerksamkeit seines Zuhörers gewiß ist. Doch die Pause dehnt sich aus, frißt sich weiter, als habe sie es jetzt, nach sechzig Jahren Anwen dung, zu eigenständigem Leben gebracht, wie ein Krebsgeschwür, und überwuchere alle Worte. Aber in diesen ersten Sekunden der Stille geht eine gewisse Kraft von ihm aus, eine Menschenseele schickt drängend ihre unsichtbaren, unfaßbaren Strahlen aus. Dann verlischt der Funke in den Augen, die braunen Lider heben sich weit und legen gallertarti ges rosa Fleisch bloß, die Lippen öffnen sich, und die Zungenspitze schiebt sich heraus.
«Ich glaub, ich muß jezt gehn und nach meiner Frau sehn», brüllt Harry. «Sie hat das Baby nämlich erst
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