Hasenherz
nicht ausgespannt, die Markierungslinien nicht geweißt.
Die Bäume dunkeln, die Pavillons gleiten hügelabwärts. Ruth und Rabbit gehen jetzt durch den oberen Teil des Parks, der abends von Rowdies unsicher gemacht wird. Überall raschelt Bonbonpapier. Die ersten Stufen sieht man fast nicht, so dicht überwachsen sind sie von mächtigem Gebüsch, das trübbernsteinfarben ist im ersten Knospen schimmer. Vor langer Zeit, als das Wandern noch ein allgemeines Vergnügen war, haben Menschen auf der Brewer zugekehrten Bergsei te diese Stufen gebaut. Sie sind aus etwa ein Meter fünfzig langen, geteerten Balken gefertigt, und die waagerechten Trittflächen sind mit Erde ausgefüllt. Später hat man Eisenröhren zu Hilfe genommen und die harten, runden Holzkanten der Stufen damit verstrebt und feinen blauen Kies über die gestampfte Erde gestreut, die von ihnen gehalten wird. Es ist schwierig für Ruth, hier hinaufzusteigen; Rabbit beobach tet, wie sie sich abmüht, ihr Gewicht auf den tief sich einbohrenden Stöckelabsätzen zu balancieren. Sie verhaken sich ständig auf dem unebenen Boden, der verdeckt ist durch die Kiesschicht. Ihr Hinterteil schlingert, die Arme rudern gleichgewichtsuchend.
«Zieh die Schuhe aus», rät er ihr.
«Um mir die Füße zuschanden zu laufen? Du bist ungeheuer rück sichtsvoll.»
«Dann laß uns wieder umkehren.»
«Nein, nein», sagt sie, «wir müssen ja schon fast oben sein.»
«Wir haben noch nicht mal die Hälfte. Zieh die Schuhe aus. Die blauen Steinchen hören bald auf, dann kommt nur festgetretene Erde.»
«Mit Glassplittern drin.»
Aber ein Stückchen weiter zieht sie doch die Schuhe aus. Sie trägt keine Strümpfe, und ihre weißen Füße heben und senken sich leicht vor seinen Augen; die gelbe Haut an ihren Fersen flimmert vor ihm. Schma le Fesseln unter schwellenden Waden. Zum Zeichen seiner Dankbar keit zieht er auch die Schuhe aus, um mit ihr zu teilen, was immer es an Schmerzen gibt. Die Erde ist zwar festgetreten, aber kleine Steine stecken drin, die das Auge nicht sieht, die Haut aber zu spüren be kommt, jedesmal, wenn man sein ganzes Gewicht auf den Fuß stützt. Außerdem ist die Erde kalt. «Au!» macht Rabbit. «Hfff ah!»
«Vorwärts, Soldat», sagt Ruth, «nur Mut.»
Fortan treten sie nur noch aufs Gras links und rechts der Balken. Äste hängen über den Weg und machen ihn zu einem aufwärts führenden Tunnel. An andern Stellen hat man eine ganz freie Sicht und kann über die Dachfirste von Brewer hinwegsehen ins zwanzigste Geschoß des Gerichtsgebäudes, des einzigen Wolkenkratzers der Stadt. Betonadler mit gespreizten Schwingen stehen im Relief zwischen den obersten Fenstern. Zwei Ehepaare mittleren Alters mit karierten Schals, Vogel freunde, kommen Ruth und Rabbit entgegen; sobald der abschüssige Weg sie so weit getragen hat, daß sie außer Sicht sind, verschwunden hinter dem knorrigen Arm einer Eiche, nimmt Rabbit mit einem Satz die Stufen zu Ruth hinauf und küßt sie, umschlingt ihren heißen Leib, schmeckt das Salz in ihrem schweißüberglänzten Gesicht, aber ihr Gesicht bleibt stumm. Sie hält dies für einen unpassenden Zeitpunkt. Ihr einspuriger Frauenverstand ist nur darauf gerichtet, den Berg zu erklettern. Aber der Gedanke an ihre papierbleichen Füße, die Füße einer Großstadtpflanze, die nackt über die Steine gehen, ihm zuliebe, bringt sein Herz, das ohnehin schon unmäßig strapaziert ist, zum Überfließen. Und schwach wie in großem Kummer klammert er sich an ihren stabilen Leib. Ein Flugzeug streicht über sie hin, zerknattert in Windeseile die Luft.
«Meine Königin», sagt er, «mein altes gutes Pferd.»
«Dein was?»
«Mein Pferd.»
Das letzte Stück steigt der Berg ganz senkrecht hoch, und hier haben moderne Menschen eine richtige Betontreppe mit einem Eisengeländer gebaut, die Z-förmig in drei einzelnen Zügen hinaufführt zum asphaltierten Parkplatz des Gipfel-Hotels. Sie ziehen sich die Schuhe wieder an und steigen die Treppen hinauf und sehen auf die Stadt hinunter, die allmählich immer flacher geworden ist. Geländer sind um den Rand des Steilabhangs gezogen. Rabbit umfaßt eine solche weiße Querstange; sie ist warm von der Sonne, die schon weit vom Zenit herabgesunken ist. Er sieht senkrecht in die Tiefe, in die explodierenden Baumkronen. Eine Aussicht, die Furcht einflößt, die ihn an seine Kindheit erinnert, an damals, als er immer überlegt hat: wenn man jetzt springt, stirbt man dann, oder wird man weich
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