Hasenherz
aufgefangen von diesen grünen Wipfeln, wie von den Wolken eines Traums? Im untern Teil seines Blickfelds steigt die steinige Steilwand zu seinen Füßen hinauf, perspektivisch zusammengeschoben zur Breite eines Messers; im obere» Teil senkt sich der Hügelhang sanft zu Tal, mit verdämmernden Pfaden, Lichtungen hier und da und den Stufen, die sie heraufgestiegen sind.
Ruths Lider sind halb geschlossen, als lese sie ein Buch, und unver wandt sieht sie auf die Stadt nieder. Der harte Umriß ihrer Wange in der hohen, klaren Luft ist unbewegt. Fühlt sie gerade wie ein Indianer? Sie hat gesagt, sie könnte Mexikanerin sein.
Also schön! Sein Einfall war es, hier heraufzusteigen. Wozu eigent lich? Da unten liegt die Stadt: sie fängt mit Puppenhausreihen am Parkrand an, gerinnt dann zu einem großen, verschwommenen, blumentopfroten Klumpen, dem schwarze Teerdächer und blitzende Au tos ein paar Akzente geben, und zerläuft dann in rosa Dunst, der über dem fernen Fluß hängt. Gastanks schimmern im Dunstschleier. Voror te ziehen sich hindurch wie Streifen. Aber mitten im Blickfeld liegt mächtig die Innenstadt, und Rabbit öffnet den Mund, als öffne er den Mund seiner Seele, damit sie das Aroma der Wahrheit dieses Anblicks koste; als sei die Wahrheit ein Rätsel in so verdünnter Lösung, daß wir davon nur bei unendlichen Mengen eine greifbare Ahnung gewinnen können. Die Luft trocknet seinen Mund aus.
Dieser Tag hat viel Scherereien um Gott gebracht. Ruths Spott, Eccles’ Ausweichen – warum wird man diese Dinge gelehrt, wenn niemand an sie glaubt? So, wie er hier steht, scheint es ganz einleuch tend, daß, wenn es dieses Unten gibt, auch ein Oben existiert, daß der eigentliche Raum, in dem wir leben, der obere ist. Irgendwer stirbt da unten. Irgendwer stirbt in diesem mächtigen Ziegelklumpen. Der Gedanke kommt ihm von nirgendwoher. Einfache Wahrscheinlichkeits rechnung. Irgend jemand in irgendeinem Haus in irgendeiner der Straßen da unten stirbt, wenn nicht in dieser Minute, dann in der nächsten. Und in diesem Haus, in dieser steinernen Brust, scheint Rabbit das Herz dieser flachen, ausgebreiteten Rose zu schlagen. Er schaut umher, ob er's nicht finden kann; vielleicht kann er die krebsgeschwärzte Seele eines alten Mannes im Blau aufsteigen sehen wie einen Affen am Seil. Er strengt seine Ohren an, um den Klang des Sichlösens zu hören, da entgleitet die blumentopfrote Stadt zu seinen Füßen diesen Bezirken seiner Phantasie. Stille weht ihn an. Autoschlangen winden sich dahin, ohne Laut. Ein Punkt löst sich aus einer Tür. Was tut er hier, warum steht er hier draußen? Warum ist er nicht zu Haus? Er erschrickt. «Leg deinen Arm um mich», bittet er Ruth.
Gleichgültig kommt sie seinem Wunsch nach: sie macht einen Schritt und schwingt ihre Hüfte gegen die seine. Er preßt sie an sich und fühlt sich besser. Brewer zu ihren Füßen aalt sich im sinkenden Sonnenlicht; sein weites rotes Kleid bläht sich aus dem Tal, in das die Stadt konkav gebettet ist, und füllt sich mit Luft wie eine Brust. Brewer, die Mutter von Hunderttausenden, Refugium für die Liebe, sorgsam erdachtes, strahlendes Kunstprodukt. Und in einem neugewonnenen Geborgen heitsgefühl fragt er, und es klingt wie eine Scherzfrage aus dem Mund eines umhegten Kindes: «Bist du wirklich auf den Strich gegangen?»
Zu seinem Erstaunen wird sie ganz hart in seinem Arm, geht weg von ihm und steht drohend am Geländer. Ihre Augen werden schmal, ihr Kinn verändert die Form. Trotz aller Angespanntheit nimmt er drei Pfadfinder wahr, die über den Asphaltplatz zu ihnen herübergrinsen.
«Bist du wirklich eine solche Ratte?» fragt sie.
Er spürt, daß er vorsichtig antworten muß. «Ein bißchen ja.»
«Dann ist's ja gut.»
Sie fahren mit dem Bus zurück.
Am Dienstagnachmittag, der Himmel ist voll Wolken, fährt er mit dem Bus nach Mt. Judge. Eccles’ Haus liegt im Norden der Vorstadt; er kommt ganz nah an dem seinen vorbei, ungesehen, und steigt in der Spruce Street aus und geht dann zu Fuß weiter und singt mit hoher Stimme den Vers vor sich hin: «Oh, I'm just wild about Harry» – nicht den Anfang des Schlagers, sondern die Stelle am Schluß, wo das Mädchen immer wieder dasselbe singt und mit der Stimme so weit rauf geht bei «I'm».
Er ist guter Dinge. Seit zwei Tagen schon leben Ruth und er von seinem Geld, und er hat immer noch vierzehn Dollar. Und überdies hat er heute morgen festgestellt, als er in ihrer Frisierkommode geschnüf
Weitere Kostenlose Bücher