Hass
Kaffees in der Hand saß Dix Evelyn Sherlock in dem vornehmen Wohnzimmer gegenüber und schaute auf seine Uhr.
»Ja, es ist schon fünf Uhr«, sagte Evelyn. »Dix, mein Lieber, mir ist eingefallen, dass Sie möglicherweise keinen Anzug mitgebracht haben. So eine kurz entschlossene Reise. Oder haben Sie einen dabei?«
Er lächelte die attraktive Frau an, die Sherlocks Mutter war und ihr nicht im Geringsten ähnlich sah. Sie wirkte großherzig und elegant, anmutig und ausgeglichen. Das blonde Haar war kinnlang zu einer modernen Frisur geschnitten. Wo hatte Sherlock nur ihr unglaublich wildes, rotes Haar her?
»Es ist so, Madam …«
»Nennen Sie mich Evelyn.«
»Gerne, Evelyn. Also, da dieser Thomas Pallack ein hohes Tier ist, habe ich mir schon gedacht, dass es gut wäre, einen ordentlichen Anzug mitzubringen, damit ich mich nicht blamiere. Ich weiß nicht, ob er der neuesten Mode entspricht, aber …«
Evelyn tätschelte seine große Hand. Sie glich der ihres Schwiegersohnes, dachte sie, eine starke, feste Hand, die jemanden sicher aus dem tiefsten Morast ziehen könnte. »Isabel soll ihn sich ansehen. Sie kann uns sagen, ob er angebracht ist. Wenn ja, wird sie ihn für Sie dämpfen.«
Isabel befand Dix’ dunkelblauen wollenen Anzug dem Anlass für angemessen. Sein Hemd bestand den Test jedoch nicht. Also knöpfte er schließlich eins von Richter Sherlocks handgeschneiderten weißen Hemden zu, legte einfache goldene Manschettenknöpfe an und knotete eine rot-weiße italienische Seidenkrawatte. Dix trat einen Schritt zurück und betrachtete sich im großen Spiegel in seinem geräumigen Gästezimmer, das so groß war wie sein Esszimmer zu Hause. Vom Fenster angezogen, blickte er auf Sausalito, ein anmutiges Städtchen in den Hügeln, und die Marin Headlands. Evelyn hatte ihm erzählt, dass es in der letzten Zeit viel geregnet hatte, deshalb war es jetzt hier fast so grün wie in Irland. Aber das dauert nicht lange an, warten Sie nur bis Juli, hatte sie geseufzt.
Sein Zimmer war mit englischen Antiquitäten angefüllt, die Christie sicher gefallen hätten. Ruths Geschmack hingegen ging eher in Richtung von Helligkeit, Farben und des Skurrilen, wie dem Keramikhahn, der aufmerksam neben der Eingangstür stand. Dix zögerte plötzlich, starrte sich selbst im Spiegel an, ohne wirklich etwas zu sehen. Konnte er das durchziehen? Wie konnte er der Frau gegenübertreten, die einfach nicht Christie sein konnte, weil Christie tot war?
Aber was, wenn es doch Christie ist?
Seine Hände schwitzten und sein Herz schlug heftig. Er konnte nicht mehr klar denken, war völlig durcheinander. Diese Frau, Charlotte Pallack, nein, sie war nicht Christie, aber – Was ist denn nur mit dir los, du Idiot? Christie ist schon lange tot. Finde dich endlich damit ab. Seine Gedanken schlugen eine andere Richtung ein. Da diese Frau nicht Christie sein konnte, hatte sie möglicherweise eine verschollene Schwester? Hatte Chappy eine Affäre gehabt und nichts von der Schwangerschaft seiner Geliebten gewusst? So wirbelten seine Gedanken schon den ganzen Tag wild durcheinander. Wenn er seine Beretta dabeigehabt hätte, hätte er sich wohl schon erschossen.
Er fürchtete sich vor dem, was er wollte, was er nicht wollte und was er letztendlich herausfinden würde. Er gestand sich den eigenen Wahnsinn ein, konnte aber nichts dagegen tun. Nun musste er sich zusammenreißen, damit er der Frau heute Abend gegenübertreten konnte. Er musste einen klaren Kopf bewahren. Er würde es in der Sekunde wissen, wenn er sie sah. Und dann würde alles vorbei sein.
Dix schüttelte seinem Spiegelbild gegenüber den Kopf und bürstete sich das dunkle Haar. Er musste sich beruhigen, dieser Herausforderung gegenübertreten: Du musst total cool bleiben, Mann, wie Rafe sagen würde. Er schaute sich weiterhin an und nickte dann zufrieden. Er sah elegant aus, stellte er fest, wie ein Gast eben aussehen sollte, der vornehm und reich genug war, um mit Gesellschaftssnobs zu Abend zu essen. Er war gefasst und selbstbewusst. Er war bereit. Und er würde nicht zusammenbrechen, egal, was passierte.
Zehn Minuten später stimmte Evelyn Sherlock im Wohnzimmer seiner Selbsteinschätzung zu. Sie tätschelte ihm den Arm. »Auch wenn Charlotte nicht Ihre Christie ist, versucht sie vielleicht trotzdem, mit Ihnen durchzubrennen«, bemerkte sie, während sie aufstand, um seine Krawatte zu richten, was eigentlich unnötig war.
Das war eine neue Sicht der Dinge, dachte Dix und
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