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Hassbluete

Hassbluete

Titel: Hassbluete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agnes Kottmann
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würde. Dann tastete ich mich bis zur Tür, lauschte, ob im Kellerflur Geräusche zu hören waren, und machte erst danach das Licht an. Alles sah unverändert aus. Was hatte Mike gesucht und nicht gefunden? Das Rascheln hatte nach Papier geklungen. Robins Briefumschlag!
    Er lag noch in seinem Versteck, aber anders herum, als ich ihn hineingelegt hatte, mit der Rückseite nach oben: Mike hatte nach Robins Schlüssel gesucht!
    Ich schloss die Tür von innen auf, machte erst dann das Licht aus und ging die Treppen hinauf bis in unseren Stock, ohne im Erdgeschoss in den Aufzug zu wechseln. So dauerte es länger, bis ich oben ankam. Ich würde das erste Mal seit Robins tödlichem Sturz wieder unsere Wohnung betreten. Alles sah so aus wie zuvor und doch würde nichts mehr so sein wie noch vor einigen Stunden. Robin würde uns nie wieder mit seiner Anwesenheit nerven und trotzdem würde jetzt immer ein Loch neben uns sein.

7
    Ich klingelte, aber niemand machte auf. Mom war vielleicht oben bei den Richters. Aber da konnte ich jetzt nicht hingehen. Die Wohnung lief bestimmt über vor Tränen.
    Ich merkte, dass ich Mom brauchte, jetzt in diesem Moment. Dieses Gefühl, als Mike mich in den Arm genommen hatte – ich sehnte mich nach mehr davon. Ich musste mich irgendwo anlehnen.
    Ich schloss auf, ging direkt auf den Balkon und setzte mich in Moms Stuhl. Ich stellte mir immer wieder vor, wie Robin hier vorbeigeflogen war. Ob ich ihn so schnell erkannt hätte, wenn ich wie jetzt hier gesessen hätte?
    In seiner Apfelsinen-Jacke bestimmt.
    Er würde nie mehr plötzlich unten im Keller stehen, weil wir den Schlüssel nicht gehört hatten.
    Er würde nie mehr eine SMS schreiben:
    Fahre gleich ins Bagel.
    Er würde nie mehr bei den Fahrrädern stehen, unfähig, uns zu fragen, was wir vorhatten und ob er mitmachen könnte?
    Er würde nie mehr die ganze Pause auf dem Klo verschwinden und sich in einer Kabine einschließen, nur um nicht alleine irgendwo herumstehen zu müssen. Hundertpro hatte er besonders darunter gelitten, dass alle immer gesehen hatten, wie alleine er war.
    Das war jetzt vorbei. Und ich hatte auch noch gesagt, er solle verschwinden!Würde er noch leben, wenn ich es nicht gesagt hätte?
    Als ich ins Bett ging, war meine Mutter immer noch nicht wieder zurück.
    Einschlafen konnte ich nicht, ich versuchte es mit lesen, Musik hören, fernsehen, zappte mich durch die Programme. Auf jedem zweiten Kanal immer noch irgendwas über Elbdetten. Im Stadtfernsehen, das vielleicht etwas über Robin bringen würde, waren die Tages-Nachrichten gerade vorbei. Weiter ging es mit Erotik-Clips. Zapp! Ich blieb bei einer Sendung über Schwarze Löcher im Universum hängen und schlief schließlich doch darüber ein. Als ich zwischendurch wieder aufwachte, lief gerade Englisch für Anfänger – eine Sendung aus dem letzten Jahrhundert mit komischen Frisuren und Rautenpullis.
    Auf dem Weg ins Bad sah ich Moms Jacke und Tasche an der Garderobe im Flur hängen. Auf der kleinen Ablage lag jetzt ein Zettel, den ich wohl nicht gesehen hatte.
    Süße, ich bin bei den Saalfelds. Wenn was ist, kannst du mich gern anrufen oder vorbeikommen. Ich schätze, dass du mit Mike und den anderen zusammen bist und ihr euch gegenseitig tröstet. Ihr wart plötzlich alle verschwunden. Die Polizei hat noch nach dir gefragt. Ich bin jederzeit für dich da, wenn du mich brauchst. Kuss, Mama
    Ich weckte sie nicht, es war wohl spät geworden.
    Aber sie hatte geahnt, ich brauchte ihren Trost, auch wenn ich mich mit Mike, Janni und Daniel aus dem Staub gemacht hatte.
    Warum hatte Mike uns so schnell vom Unfallort weggelotst?
    Worüber hatte Mom mit Evelyn gesprochen? Für uns ist das auch nicht so leicht, würde die vielleicht sagen. Die Vorstellung, man verliert sein eigenes Kind.
    Was hatte ich verloren?
    Meine Unschuld?
    Die hatte ich spätestens an der Berkel verloren, weil ich Mike nicht gestoppt und Robin nicht geholfen hatte. Nur ganz am Schluss, als es schon fast zu spät war.
    Auf jeden Fall hatte ich den Glauben verloren, dass jeder tun und lassen konnte, was er wollte. Dass es die Freiheit dazu gab.
    Am nächsten Morgen ging ich ohne Frühstück zur Schule, nahm die U-Bahn, fühlte mich zu schlapp zum Pedaletreten. Bei Mike ging ich erst gar nicht vorbei, ich wollte meine Ruhe. Die Zeitungen in den Kästen an der U-Bahn-Station hatten fast alle dieselbe Schlagzeile: »Junge stürzt vom achten Stock in den Tod« – »Tragischer Balkonsturz in

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