Hassbluete
konnte er mich wenigstens hören!?
»Entschuldige«, sagte Wolfgang. Er war mir nachgelaufen und legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter. Sie lag schwer darauf und zwang mich anzuhalten. Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. Da stand er vor mir, mit hängenden Schultern und dem traurigsten, verzweifeltsten Blick, den ich jemals gesehen hatte.
»Bitte, Michelle, ich muss alles wissen. Lisa und ich … das belastet uns alles so sehr. Ich … ich kann einfach nicht mehr.« Er atmete schwer und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht und durch die Haare. »Entschuldige, bitte«, sagte er noch mal. Er warf einen Blick zurück zu der Trauergesellschaft. Meine Mutter stützte jetzt Evelyn Saalfeld, die offenbar noch mal zurückgekommen war. Lisa war nicht mehr zu sehen.
»Ich muss zurück.«
»Klar«, sagte ich verständnisvoll und nickte.
»Hättest du irgendwann vielleicht mal eine Minute Zeit für mich, für Lisa und mich?«, fragte er bescheiden.
»Ja, natürlich«, stammelte ich. »Ich wollte erst noch zu Mike.«
»Das muss auch für dich alles sehr schwer sein«, sagte er mitfühlend.
Und wie auf Kommando standen mir plötzlich die Tränen in den Augen.
»Komm einfach mal vorbei, ja? Wenn es für dich passt.« Er legte seine Hand auf meinen Arm und sah mich intensiv an. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass Wolfgang vielleicht der Einzige war, der mich im Moment verstehen konnte. Er wirkte trotz allem so gefasst und ruhig. Irgendwie hatte man bei ihm immer das Gefühl, dass schon alles wieder in Ordnung kommen würde und man sich auf ihn im Ernstfall verlassen könnte.
Ich nickte.
Er atmete tief durch. Dann strich er mir noch einmal über den Arm und ging dann zu den Trauergästen zurück. Seine Frau stand jetzt wieder direkt am Grab, drehte sich in unsere Richtung und lächelte.
Mit der U-Bahn fuhr ich bis zum Krankenhaus, ich musste zweimal umsteigen. Die diensthabende Schwester, die gerade bei Mike gewesen war, wollte mich nicht zu ihm lassen. »Er ist noch sehr schwach«, sagte sie. »Seinen Vater habe ich eben auch schon fortschicken müssen.«
Dann war also nur Evelyn zur Beerdigung zurückgegangen und Klaus Saalfeld allein ins Krankenhaus gefahren.
»Sind Sie seine Schwester?«, fragte die Krankenschwester.
»Nein, seine Freundin.« Und ich merkte in diesem Moment, dass es die Wahrheit war. Und vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich hatte das Gefühl, dass Mike es gehört hatte. Durch die Trennscheibe sah sein Mund so aus, als würde er lächeln.
»Aber nur fünf Minuten«, sagte die Schwester und öffnete leise für mich die Tür.
Mike lag hier ganz allein, angeschlossen an tausend Schläuche und Apparaturen. Als hätte man ihn wie Frankenstein zusammengeflickt und würde nun versuchen, ihm wieder Leben einzuhauchen.
An der Unterseite von Mikes rechtem Handgelenk, das an der Bettseite herunterhing, dort, wo der Besucherstuhl stand, befand sich ebenfalls eine Kanüle mit einem Schlauch. Ich mochte die Hand nicht nehmen und halten, weil ich Angst hatte, der Schlauch könnte rausrutschen. So setzte ich mich nur auf den Stuhl und strich ihm mit meinem Zeigefinger über den Handrücken und die einzelnen Finger. Sein Ringfinger zuckte etwas bei meiner Berührung. Vielleicht war es aber auch nur ein Reflex?
»Was ist wirklich passiert, Mike?«, flüsterte ich leise. »Du musst es mir sagen, irgendwie. Vielleicht kannst du mir noch einen Traum schicken?«
Jetzt zuckte der Zeigefinger, aber nur ein, zwei Millimeter. Trotzdem war ich sicher, dass er mich verstanden hatte.
Die Schwester kam ewig lange nicht zurück und so saß ich da und streichelte immer weiter Mikes Hand. Und fühlte mich ihm so nah wie noch nie zuvor.
14
Als ich nach Hause kam, wartete Wolfgang vor unserer Tür. Er saß in der Hocke und lehnte mit dem Rücken an der Wand. »Ich habe auf dich gewartet, Michelle«, sagte er. »Die anderen sind noch beim Leichenschmaus.«
Die Richters hatten dafür ein Café in der Nähe der U-Bahn-Station angemietet. Es war das einzige, das man zu Fuß erreichen konnte. Und hatte im September wunderbaren Pflaumenkuchen. Den gab es jetzt natürlich noch nicht.
»Wir gehen in den Keller«, schlug ich vor.
»Was für einen Keller?«, fragte Wolfgang überrascht.
»Unser Cliquen-Raum, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig.«
Wir fuhren mit dem Aufzug bis ganz nach unten, und als ich vor der Kellertür den Schlüssel
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