Hassbluete
beobachtet. Es hatte ihr einfach keine Ruhe mehr gelassen, sie musste herausfinden, wer Tsunami ist, ob es wirklich Mike war. Letzte Nacht war sie in ihrem Wagen eingeschlafen und hatte beim Aufwachen mitgekriegt, dass Wolfgang und ich in Richtung Brücke gingen.
»Von einem Tsunami steht aber nichts in dem Brief«, gab Lisa zu bedenken.
»Ich habe ihn extra nicht erwähnt, um Robin zu schützen. Und die anderen. Ich hatte es ihm versprochen.« Sie sah dabei mich an und fuhr fort, dass sie Robin ebenfalls beobachtet hatte, so gut es ging – neben ihrem Job. Deshalb war sie auch so schnell am Unfallort gewesen. Sie hatte sich vorgenommen, ihn aufzuhalten, wenn er sich verdächtig verhalten hätte. Dass er sich vom Balkon stürzen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Den Sturz selbst hatte sie nicht mitbekommen. Es musste passiert sein, als sie gerade ihren Wagen in einer Seitenstraße parkte.
»Ich wollte mit dem Brief das Schlimmste verhindern und hatte gehofft, dass Robin durch das Aufschreiben eine innere Distanz bekommt. Vielleicht auch selbst anfängt, seine Gefühle aufzuschreiben und somit eine Form findet, sie nach außen zu tragen. Ich hatte den Eindruck, dass er das einfach nicht mehr länger in sich tragen konnte«, schloss Helen Marquardt ihre Beichte.
»Na, das hat ja prima funktioniert«, sagte ich mit sarkastischem Unterton. »Bei Mike haben Sie damit wohl eher das Gegenteil erreicht: Wahrscheinlich hatte er sich allein wegen Ihres Briefes so schuldig gefühlt, dass er sich selbst für Tsunami gehalten hat!?«
»Ich wollte nur verhindern, dass mir … dass etwas passiert.«
»Dass was passiert?«, fragte ich.
Helen Marquardt seufzte. »Ich habe früher mal einen Fehler gemacht, einen sehr schwerwiegenden Fehler. Seitdem bin ich vielleicht ein wenig übervorsichtig.«
Sie sah in unsere fragenden Gesichter, dann erzählte sie: »Damals hat ein Mädchen bei mir angerufen, ungefähr in deinem Alter. Sie hat behauptet, vergewaltigt worden zu sein, von dem Freund ihrer Mutter. Ich habe sie nicht ernst genommen. Das war der größte Fehler meines Lebens.«
Wir warteten, dass sie weitersprechen würde, aber sie schwieg.
Es blieb eine ganze Weile still. Dann ergriff Wolfgang wieder das Wort und sagte: »Ich verstehe ihre Angst, aber das ist doch alles überhaupt nicht vergleichbar! Robin war weder ein Amokläufer noch ein Selbstmordattentäter!? Nie im Leben!« Er wusste nicht, was ich in Robins Schreibtischschublade gefunden hatte, diesen Internet-Text mit der Überschrift »Amok für Gott!«. Sonst wäre er vielleicht nicht ganz so überzeugt gewesen. Den Text hatte ich bei der Polizei natürlich auch nicht erwähnt, denn dann hätte ich ja zugeben müssen, dass ich den Schlüssel an mich genommen hatte und heimlich in der Wohnung gewesen war.
Lisa drehte sich weg und blieb merkwürdig still. Sie sah zu der Stelle hinüber, wo ich Mike gefunden hatte. »Doch, es stimmt«, sagte sie, ohne dass wir sofort wussten, was sie meinte.
»Wie bitte?«, fragte Helen.
Lisa drehte sich zu uns um und schaute verzweifelt: »Es stimmt. Robin wollte nicht mehr leben und es ist auch gut möglich, dass er mich auch nicht am Leben lassen wollte.«
Wolfgang fuhr zu ihr herum. »Spinnst du? Was redest du denn da? Er hat doch so an dir gehangen!?«
Lisa schüttelte den Kopf. »Robin wusste etwas, das du noch nicht weißt.« Sie machte eine Pause. »Ich habe die Antibabypille abgesetzt. Robin hat die angefangene Packung im Müll gefunden. Ich wusste es nicht, und vor allem wusste ich nicht, wie sehr ihn das beschäftigt und gekränkt hat.«
»Lisa«, sagte Wolfgang zärtlich und wollte sie in seine Arme schließen. Doch sie stieß ihn weg. »Kapierst du nicht? Ich hab dir was vorgemacht, ich wollte unbedingt ein Kind kriegen!?«
»Und, bist du schwanger?« Er nahm es offenbar leicht.
»Nein«, sagte sie. Und schaute zum Himmel hoch. Sie schloss kurz die Augen, dann seufzte sie und sagte: »Robin will das nicht.« Jetzt hatte sie fast den gleichen Gesichtsausdruck wie in dem Moment, als sie neben Robins Leiche auf dem Bürgersteig gekniet hatte. Ein bisschen irre und nicht ganz anwesend. »Er hat mich angerufen, kurz bevor er …«, sie guckte immer noch hoch, als könnte sie ihn dort oben irgendwo entdecken. »Ich war noch im Bistro, aber schon fast auf dem Heimweg. Er hat mich angeschrien, dass ich ihn belogen hätte, dass er nicht das Wichtigste auf der Welt für mich ist, dass ich ihn im Stich lasse, nur um
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