Hassbluete
Tsunami, weil der nichts davon wusste. Das hat er mir auch am Telefon erzählt.«
Also konnte Mike nicht Tsunami sein. Ich kam gar nicht dazu, erleichtert zu sein oder mich darüber zu freuen, denn Lisa hakte sofort ein: »Wieso er? – Ich denke, Tsunami ist kein Mann?«
Niemand von uns sagte etwas, denn immer noch wusste niemand eine Antwort auf die Frage, wer Tsunami war.
»Ich habe mich damals schon gewundert, dass Robin sofort abgelenkt hat, sobald das Gespräch auf Sie kam, seine Mutter«, sagte Helen.
»Aber ich … ich hab ihm nie etwas getan«, verteidigte sich Lisa. »Er konnte doch keine Angst, keine Todesangst vor mir haben!? Wieso denn!? Ich … ich war doch seine Mutter!?«
»Sein Vater hatte ihn schon verlassen, Sie haben ganz klar die Prioritäten zugunsten ihrer neuen Ehe und eines möglichen zweiten Kindes gesetzt. Er wollte unbedingt in Ihnen die gute Mutter sehen, um die böse, die ihn vernachlässigt, verdrängen zu können. Aber die kam in seiner Fantasie vielleicht mit aller Macht immer wieder hoch. Und daraus kann dann ein total übermächtiges, Angst einflößendes Monstrum werden, was mit der wirklichen Person nichts mehr zu tun hat«, erklärte Helen Marquardt die fachliche Grundlage.
Lisa war am Boden zerstört. Wolfgang stand nur hilflos neben ihr und wusste anscheinend überhaupt nicht, wie er mit der neuen Situation umgehen sollte.
Helen strich sich eine Strähne hinters Ohr. »Jetzt bin ich doch froh, dass ich nicht zur Polizei gegangen bin«, sagte sie. »Ich hab immer mit mir gekämpft. Ich hatte ja Robin versprochen, es nicht zu tun. Er hatte so große Angst, dass Tsunami dann schneller sein und noch mal zuschlagen würde. Bei Mike hatte er es ja vielleicht schon versucht!« Sie blickte zu Lisa. »Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan!?«
»Ich weiß es nicht«, meinte Lisa. »Ich kann das alles noch nicht glauben. Ich hätte nie gedacht, dass Robin so viel Angst vor mir hatte.«
Jetzt nahm Wolfgang sie in den Arm. War es so, dass Lisa viel mehr Schuld hatte als wir und Mike völlig umsonst fast gestorben war oder sich grundlos selbst bestraft hatte? Auch wenn die Fakten jetzt auf dem Tisch lagen, war die Welt für mich noch lange nicht wieder in Ordnung.
»Und Mike hat geglaubt, er sei schuld«, sagte ich wütend. »Den hast du auch noch auf dem Gewissen.«
Lisa fühlte sich gleich angesprochen und hob den Kopf: »Aber das wollte ich doch nicht … Wenn ich das gewusst hätte … es tut mir so leid … ich würde alles dafür geben, wenn ich es ungeschehen machen könnte …«
Ich wandte mich langsam ab, wollte Lisas Erklärungen und Entschuldigungen einfach nicht mehr hören.
Langsam lief ich über die Brücke und zu der Stelle, an der wir Robin ins Wasser geworfen hatten, und legte mich auf dem Bauch ins Gras. In meiner Welt stimmte einfach gar nichts mehr, kein Stein stand mehr auf dem anderen. Durch Lisas Geständnis war deutlich geworden, wie viel schieflief zwischen uns allen. Wie wenig wir miteinander redeten, wie viele Missverständnisse täglich unsere Gefühle beeinflussten und uns auf die falschen Fährten führten. Nie hatte ich beispielsweise meiner Mutter gesagt, dass ich meinen Vater vermisste, weil das einfach kein Thema war, weil Mom ihn auch nicht zu vermissen schien. Nie hatte ich Janni gesagt, dass ich sie eigentlich gern hatte, sie mir nur immer mit ihrem Getue um Mike total auf die Nerven ging. Nie hatte ich Daniel gesagt, dass ich seine ruhige Art mochte und dass er nicht immer sofort ausflippte wie alle anderen, dass es einfach guttat, mit ihm zusammen zu sein. Nie hatte ich Robin gesagt, dass ich ihn manchmal am liebsten wie einen kleinen Bruder in den Arm genommen und über den Kopf gestreichelt hätte, damit er merkte, dass eigentlich alles in Ordnung war und es überhaupt keinen Grund gab, weshalb er sich immer so merkwürdig verhalten musste. Nie hatte ich Mike gesagt, dass er für mich nicht immer den Obercoolen spielen muss. Und dass ich mir eigentlich nur gewünscht hatte, dass er mir mal offen sagt, was er für mich empfindet, anstatt mir einen fordernden Kuss auf die Lippen zu drücken.
Aber mussten wir alle erst sterben oder sterben wollen, damit man erkannte, wer wir waren und was uns bewegte oder berührte? Musste es erst zu spät sein?
Und ich versprach Mike in diesem Moment, dass ich mir ernsthaft Mühe geben würde, ihm eine gute Freundin zu sein, falls er aus dem Koma
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