Hassbluete
aufwachen sollte. Auch wenn er behindert sein würde, nicht laufen oder nicht sprechen konnte, würde ich für ihn da und mit ihm zusammen sein. Dieser Entschluss machte mich wieder ein bisschen freier und froher.
Als ich zu Hause ankam, saßen alle bei meiner Mutter in der Küche, alle außer Helen Marquardt. Die hatte in die Telefonseelsorge gemusst.
Auch Janni und Daniel kamen noch vorbei. Wir gingen in mein Zimmer, ließen aber die Tür auf, um die Unterhaltung der Erwachsenen mitverfolgen zu können. Mikes Mutter kam auch noch vorbei, als hätte sie gewusst, dass hier ein außerplanmäßiges Treffen einberufen worden war. Die Richters legten alle Karten auf den Tisch, alles, was sie von Helen Marquardt erfahren hatten und was sie selbst wussten. Mikes Mutter seufzte oft auf oder fragte erschrocken nach: »Was? Mike dachte, er sei dieser Tsunami, und hat sich deshalb …?« Sie brach ab und wir konnten nebenan ihr fassungsloses Kopfschütteln buchstäblich hören.
»Nein, wahrscheinlich hat Robin mich mit Tsunami gemeint«, beschwichtigte Lisa sie.
Sie waren sich alle einig, Helen Marquardts Aktivitäten nicht der Polizei zu melden. Sie sollte selber hingehen oder es bleiben lassen. Robin würde davon auch nicht wieder lebendig und Mike nicht schneller gesund werden. Dann klingelte ein Handy und ich erkannte All you need is love . Aber das Klingeln wurde abgewürgt.
Ich stutzte. War das jetzt Wolfgangs Handy gewesen? Woher hatte er so schnell ein neues bekommen? Seins war doch gerade erst in den Fluss gefallen! Oder welches Handy lag jetzt in der Berkel? Aber dann war die Frage auch schon wieder weg. Keine Antwort der Welt konnte jetzt noch helfen.
Daniel, Janni und ich hatten uns quer mit dem Rücken auf mein Bett gelegt, starrten die Decke an und lauschten. Jeder machte sich seine eigenen Gedanken.
Ich konnte spüren, dass Janni und Daniel sich nähergekommen waren und Händchen hielten, auch wenn ich es nicht sehen konnte. Ich lag links von Janni, Daniel rechts von ihr. Als Janni wie eine Spinne mit ihren Fingern in meine Richtung krabbelte, öffnete ich die Hand und ließ die Spinne zwischen meine Finger gleiten.
Peace.
Wir waren alle so mit unseren Problemen beschäftigt gewesen, dass wir nicht gemerkt haben, was wirklich los war. (. . .)
Das Leben ist nun mal oft schwer oder ungerecht, mehr oder weniger. Damit muss jeder selbst fertig werden. (. . .)
Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt. (. . .)
Nein, das ist kein Egoismus, das ist sehr sozial. Oder anders ausgedrückt: Nur wer für sich selbst gut sorgt, kann auch gut für andere da sein. (. . .)
Sie können das gern als esoterisches Geschwafel abtun – aber das ist meine Lebensphilosophie. (. . .)
17
Meine Mutter war bei Licht und mit einem Buch auf dem Bauch eingeschlafen. Ich legte es beiseite und knipste die Nachttischlampe aus. In diesem Moment hörte ich, dass über uns im Badezimmer der Richters Wasser eingelassen wurde. Diese Neubau-Hochhäuser sind wirklich furchtbar hellhörig. Ich guckte auf Moms Digitalwecker. Es war schon nach zehn.
Mir fiel wieder ein, dass Robin an dem Abend, bevor er starb, auch baden wollte. Aber das Wasser war kalt gewesen. Eiskalt. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Und ich erinnerte mich an den Ausdruck auf Wolfgangs Schreibtisch über Waterboarding und an Robin, der in seinem Bademantel das Curry aus der Küche geholt hatte. Und dann plötzlich diesen anderen Duft an sich hatte, als er zurückkam, obwohl er angeblich allein war und in der Küche bestimmt kein Aftershave rumstand.
Was, wenn Helen Marquardt doch nicht so verrückt war, sondern an ihren Vermutungen etwas dran war? Mein Gefühl war immer noch nicht zur Ruhe gekommen.
Mir wurde wieder übel und ganz unruhig im Bauch – wie in dem Moment, als ich geahnt hatte, dass Mike doch unschuldig war und dass es ihm schlecht ging und er meine Hilfe brauchte.
Da ich mein T-Shirt im Bett anbehalten hatte, musste ich nur den Rock überstreifen. Ich nahm den Schlüssel der Richters aus meinem Stiefel, schlüpfte aber schnell in meine Turnschuhe. Die Wohnungstür zog ich leise hinter mir zu und schlich über die Treppe nach oben.
Kein Aufzug sollte mein Kommen ankündigen. Leise öffnete ich die Verbindungstür zum Flur in der achten Etage. Leer. Ich presste mein Ohr gegen die Wohnungstür. »Robin« stand immer noch neben Lisa und Wolfgang auf dem Türschild, als sei er immer noch da. Ich hörte Lisa lachen.
Falscher Alarm?
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