Hauptsache nichts mit Menschen (German Edition)
mal ohne Helm gesehen habe, hab ich mich schon ein bisschen geärgert, dass ich ihm keinen Kaffee angeboten habe. Oder was Geräuchertes.
Frau Brohm
Wie ging’s denn den andern Mietern so?
Ich
Bestens. Nur einer wurde ambulant behandelt. Die anderen haben alle im Hof rumgestanden, und man hat gleich gesehen, wer von den werten Mitbewohnern alleinstehend ist. Besonders die Damen hatten sich richtig aufgebrezelt. Ich hab mir dann auch was Schickes übergeworfen und bin mal runtergegangen. Ein bisschen Socializing.
Frau Brohm
Und wer ist das jetzt gewesen mit der Brandstifterei?
Ich
Ein Nachbar von uns.
Frau Brohm
Was?
Ich
Ja. Ein Nachbar aus dem Seitenflügel gegenüber.
Frau Brohm
Also keine autonomen Gentrifizierungsgegner?
Ich
Nö. Unpolitischer Einzeltäter. Der Herr Nachbar hatte einfach nur eine Räumungsklage am Hals. Dann hat er sich wohl gedacht: «Wenn ich schon ausziehen muss, nehm ich alle mit.«
Frau Brohm
Zumindest eine Form von Logik, die dem Wedding angemessen ist.
Ich
Sie sagen es, Frau Brohm, Sie sagen es.
SONNTAG, 2.58 UHR
Seitdem ich aufgrund beunruhigender Geräusche aus der Wohnung unter mir die Polizei rufen musste, hört mein grobschlächtiger Nachbar neuerdings immer ganz laut die Scorpions, wenn er seine Frau verprügelt. Mitten in der Nacht. Hätte ich doch das Maul gehalten
.
DENN SIE WISSEN NICHT,
WAS SIE TUN
Zu einer meiner größten Leidenschaften gehört es, fremde Menschen beim Umziehen zu beobachten. Dabei macht es für mich kaum einen Unterschied, ob es sich um das Wechseln der Kleidung oder um das Wechseln des Wohnortes handelt. Womit ich aber keineswegs andeuten möchte, dass ich beidem mit gleicher Leidenschaft nachgehe. Nur wenige Menschen sind es wert, beim Umziehen beobachtet zu werden – beim Umziehen der Garderobe. Die Anzahl jener Menschen, die sich auf eine anregende Art ausziehen, ist dabei wesentlich geringer als die Anzahl jener Menschen, die wissen, wie man sich auf mitreißende Weise wieder anzieht. Zudem steht zwischem dem Aus- und Anzug ein Zustand des Unangezogenseins. Was nur in wenigen Fällen wirklich anziehend ist. Vielleicht ist darin auch die Ursache zu finden, dass das meiste Umziehen nicht in der Öffentlichkeit geschieht, sondern vornehmlich in geschlossenen Räumlichkeiten stattfindet. Wohingegen die Dimensionen des gewöhnlichen deutschen Umzugs in geschlossenen Räumlichkeiten allenfalls ihren Anfang bzw. ihr Ende nehmen. Ich, als Sprössling einer emigrierten polnischen Großfamilie, finde es übrigens wichtig, von einem »Deutschem Umzug« zu sprechen. Dies wird jeder nachvollziehen können, der die eklatanten Unterschiede anderer Nationen, was ihre Fähigkeit des Umziehens anbelangt, vor seinem inneren Auge gegenüberstellen kann. Allen anderen sei ein Beispiel dargeboten: Der gewöhnliche polnische Familienvater zieht alleine um. Lediglich unter der Zuhilfenahme einer Sackkarre, eines Dachgepäckträgers und eines alten Opel Kadett, Baujahr ’86. Der gewöhnliche Chinese dagegen legt keinen großen Wert auf ein automatisiertes Transportmittel. Er gibt sich schon mit 86 anderen Chinesen zufrieden. Sollte dabei die Distanz den chinesischen Durchschnitt von sieben Straßenzügen überschreiten, so bedient sich der Chinese des öffentlichen Nahverkehrs. Sowohl der Pole als auch der Chinese sind dabei zu gewissen Verlusten bereit. Der Pole in Hinsicht auf seinen Hausrat, der Chinese in Hinsicht auf seine Volksgenossen.
Zu beiden Seiten des Urals wird dabei mit voller Inbrunst umgezogen, was beim gewöhnlichen Polen oft schon an persönliche Dummheit grenzt, beim Chinesen an eine kollektive Missachtung der allgemeinen Menschenwürde. Aber auch der gewöhnliche Deutsche ist in seinen speditativen Fähigkeiten nicht gerade mit Übermenschlichkeit gesegnet. Während die nationale Geschicklichkeit des ästhetischen An- und wieder Auskleidens von starken Schwankungen und einem noch stärkeren Gefälle geprägt ist, halten sich die Fachkenntnisse beim Wechseln des Wohnortes die Waage. Hier herrscht sowohl im Einzug als auch im Auszug eine völlige Unbegabtheit. Besonders erstaunlich ist, dass bei einem Auszug mit anschließendem Einzug keinerlei Lernfortschritte zu erkennen sind.
Gelegentlich begegnen mir Menschen, die nach ihrem dritten oder vierten Bier anfangen, von der Intelligenz der Massen zu philosophieren. Derartige Fantasten dürfen mich gerne mal auf einer meiner Beobachtungstouren begleiten. Besonders an einem Sonntagnachmittag findet sich in
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