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Haus aus Erde

Haus aus Erde

Titel: Haus aus Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woody Guthriie
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spähen, holte von der Waschbank einen zusätzlichen Schöpflöffel Wasser und schüttete ihn in die Eimer. Ihre knubbelige rosa Nase glänzte wie die glatte Haut einer Kirsche. Tränen trübten ihre Augen wie heißer Atem eine frostige Fensterscheibe. Sie überlegte, ein Fenster zu öffnen oder eine Tür aufzureißen, wusste aber, das würde nur noch mehr Dreck ins Haus bringen. Von den Gerüchen des Ölofens hatte sie rot geränderte Augen, und ihre Schläfen pochten und schmerzten. Als Antwort auf Ella Mays Frage sagte sie nur: »Hmmmm? Glocken? Kuhglocken?«
    Ella May versuchte zu lachen. »Ich höre Glocken. Das können keine Kirchenglocken sein.« Sie bewegte sich unter der Bettdecke. »Das müssen Kuhglocken sein.«
    »Schon möglich. Hier, heben Sie ein wenig die Hüften an. Ich will nur die Gummiunterlage drunterschieben. Hier. So ist gut. Jetzt. Heben Sie Füße und Beine an. Haben Sie arge Schmerzen? Hier. So. Da. Ist doch besser so, oder?« Blanche legte die Gummiunterlage zurecht, bevor der kalte Luftzug zu Ella Mays Haut vordringen konnte. »Ich wüsste keine anderen Glocken, die hier auf den Plains läuten.«
    »Besser. Ja. Aber ich, ah, seh zehn Millionen Gesichter in den Glocken. Halb wie Glocken. Halb wie Menschen, die singen. Ich seh die Menschen in den Glocken und die Glocken in den Menschen. Und alle läuten zusammen. Alle läuten gleichzeitig. Alle gemeinsam.« Ella hatte den Mund weit geöffnet und die Worte in ihr Kopfkissen gesprochen. Der warme Atem auf dem Bezug fühlte sich für ihre Augenbraue gut an, und sie schob ihre Wange dichter an die warme Stelle. »Jede Kuhglocke hat in ihrem Innern zehn Menschen, und mit jeder Kuhglocke kommen und gehen zehn Menschen. Zehn Menschen leben, zehn Menschen sterben, und die Kuhglocke läutet immer weiter. Und jedes Mal, wenn die alte Kuh die Glocke an ihrem Hals läutet, reden zehn Menschen durch das Gewimmel des Gebimmels. Und wenn die alte Kuh gewogen und verkauft wird, geht die Glocke mit ihr weg oder fällt runter, und dort, wo sie hingefallen ist, stolpert jemand mit den Zehen drüber, und die Stimmen sind in ihr. Aber die Stimmen sind im Schlamm abhandengekommen und in der Erde getrocknet. Und ich gehe, und ich sehe. Und das hier bin ich, wie ich gehe und sehe. Und bei meiner Seele, ich hab nie gewusst, warum, aber immer wenn ich ne alte Kuhglocke aus Messing gefunden hab, hatte ich das beste Gefühl der Welt. Ich seh sie in der Erde. Ich bleib stehen und grab sie aus. Ich mach sie gründlich sauber, dann greif ich nach dem Henkel oder nach dem Band und schüttel sie, so fest ich kann. Und natürlich läutet sie nich. Sie läutet nich, weil ich n paar Brocken Erde vergessen hab. Deswegen taste ich mit dem Finger innen rum und kratz die Erde raus. Mit Regen vermischte, von der Sonne getrocknete Erde. Alle möglichen Hufabdrücke von Pferden, die durch den Schlamm gestapft sind. Männer und Frauen, die mit ihren Kindern loses Heu und Gras, trockenen Dung in den Schlamm gestampft haben. Und sie stoßen die Kuhglocke in den Schlamm und schneiden ihn in große quadratische Blöcke. Und während sie heben und schleppen und arbeiten, läutet ab und zu die Glocke, nur ein leises Gebimmel, ein ganz leises Gebimmel. Aber im Messing der Glocke höre ich all ihre Stimmen. Und wenn sie die quadratischen Blöcke schneiden, sickern ihre Stimmen in die sonnengetrockneten Ziegel, is das nich komisch? Und wenn die Ziegel in ein Haus getragen werden, is all ihr Brüllen, Scherzen, Lachen, Weinen, alles das is im Haus, in den Wänden, Decken und Fußböden, und auf den Höfen und den Feldern. Verrückt. Dumme alte, alberne alte Kuhglocken.«
    Blanche war geschäftig im Zimmer unterwegs. Aus ihrem Koffer unter dem Bett holte sie einen weißen Kittel zum Überwerfen und band sich mit einem bunten Tuch die Haare zusammen. In Ellas Gerede schwang ein Ton mit, der von einem Fieber herrühren mochte, von einem Schmerz, den Ella zu verbergen suchte. Ein zerfasernder, wahnhafter Ton. Ein Strom von Worten aus dem Unterbewusstsein. Ellas Wehen waren nicht so heftig, dass sie Fieber haben konnte. Blanche schüttelte ein Thermometer und legte es unter Ellas Zunge.
    Als Blanche Ella Mays Gesicht berührte, fand sie es etwas zu heiß, aber das mochte daran liegen, dass sie ihre Hand in das Wasser auf dem Herd getaucht hatte. Durch die dunkle Scheibe des Nordfensters sah Blanche die ersten Schneeflocken im Sturm fliegen. In den vergangenen paar Stunden hatte der Wind zu heftig

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