Haus der Angst
Nachthemd und legte sich mit einem Buch ins Bett, aber sie konnte sich nicht auf die Sätze konzentrieren.
Ein paar Minuten später hörte sie einen Wagen in der Einfahrt, und Madison kam durch die Hintertür hereingelaufen. „Hallo, Mom, ich bin wieder da“, rief sie aus der Küche. „He, wer hat denn den Tennisschläger draußen stehen lassen?“
Lucy hielt den Atem an. Sebastian musste sie auf der Hintertreppe im Schein der Küchenlampe gesehen haben – in dem Morgenmantel, der an ihrem Körper klebte. „Das war ich.“ Es fiel ihr schwer zu sprechen.
Madison erschien an der Schlafzimmertür, und Lucy brachte ein Lächeln zu Stande. Sie würde alles tun, um ihre Kinder zu schützen – selbst Sebastian durch ihren Wald schleichen lassen.
„Und wie war der Film?“ fragte sie betont fröhlich.
Das Tier war keines natürlichen Todes gestorben. Sebastian hatte es sofort gesehen, obwohl er kein Fachmann für tote Fledermäuse war. Und dass er Lucy geküsst hatte, als sie unter Schock stand, konnte er wohl auch kaum wieder ungeschehen oder gutmachen, indem er den Kadaver ins Gebüsch schleuderte.
„Das war ziemlich mies“, murmelte er, als er die Tür seines Motelzimmers abschloss. Er hatte überlegt, ob es nötig sei, die ganze Nacht auf sie aufzupassen, den Gedanken jedoch wieder aufgegeben. Der Fledermaus-Attentäter oder die Attentäterin hatte die Mission des Tages erfüllt. Sebastian vermochte sich beim besten Willen nicht vorzustellen, wer sich diese üblen Streiche ausgedacht haben konnte – ein Mann, eine Frau, eine Gruppe von Verschwörern? Kinder steckten wohl nicht dahinter. Zu dieser Überzeugung war er inzwischen gelangt.
Er war sich nicht sicher, ob Lucy mit dem Kuss begonnen hatte oder ob er selbst den ersten Schritt getan hatte. Allerdings zweifelte er nicht daran, dass sie ihn gewollt hatte. Aber das spielte keine Rolle. Sie hatte gerade eine tote Fledermaus in ihrem Bett gefunden, und er hätte die Situation nicht ausnutzen dürfen.
Auf der anderen Seite hatte er nicht wirklich Gewissensbisse. Schön, er hatte sich schäbig verhalten. Doch er hatte sich zwanzig Jahre lang vorgestellt, wie es wohl wäre, Lucy zu küssen. Jetzt, nachdem er es endlich getan hatte, fühlte er sich besser.
Er schleuderte seine Wanderstiefel von den Füßen und ließ sich aufs Bett fallen.
Was zum Teufel redete er sich da eigentlich ein? Es ging ihm überhaupt nicht besser. Es hatte überhaupt nichts geholfen, Lucy zu küssen.
Er rief sich ihr Bild in Erinnerung, wie sie in ihrem durchnässten Morgenrock auf der Hintertreppe stand, klug und couragiert. Warum hatte er sich überhaupt in sie verliebt – in eine Frau, die er ohnehin nicht haben konnte? Eine Frau, die er nicht haben
sollte.
Dann rief er Happy Ford in Washington an. Es gab nichts Neues über Darren Mowery.
„Ich überprüfe gerade ein paar Hinweise“, sagte sie.
„Sei vorsichtig.“
„Aber immer.“
Sebastian packte das Tunfisch-Sandwich aus, das er sich auf dem Weg ins Motel gekauft hatte. Und weil er seit Monaten nicht ferngesehen hatte, schaltete er den Apparat ein. In einem Programm lief eine Wiederholung von
Gilligans Insel
. Er setzte sich aufs Bett und sah zu, wie Gilligan, der Skipper und die Gang versuchten, zurück nach Hause zu kommen. Er hätte ihnen gern gesagt, dass es keinen Weg zurück gab. Diese einfache, schreckliche Wahrheit hatte sich ihm in die Seele eingebrannt, während er in den vergangenen zwei Tagen um Daisys Haus herumgeschlichen war. Es gibt keinen Weg zurück.
Er schaltete den Fernseher aus.
Ob Mowery sich in Vermont aufhielt? Hatte er, Sebastian, ihm mit seiner Anwesenheit vielleicht einen großen Gefallen getan? Würde er eine junge Witwe als Lockvogel für ihn benutzen?
Er konnte sehr gut zwischen Vermutungen und Tatsachen unterscheiden. Dass Darren Mowery wieder in Washington aufgetaucht war, hatte möglicherweise überhaupt nichts mit der toten Fledermaus zu tun, die heute Abend auf Lucys Bett lag.
„Fang keine Arbeit an, die du nicht zu Ende bringen willst“, hatte Daisy ihm oft gesagt.
Als er im vergangenen Jahr Mowery verfolgt hatte, war Sebastian davon überzeugt gewesen, seine Arbeit zu Ende gemacht zu haben. Aber er hatte sich geirrt, und jetzt lag es an ihm, dafür zu sorgen, dass niemand außer ihm für diesen Fehler zahlen musste.
6. KAPITEL
D as Haus war einfach vollkommen.
Barbara stand auf der rückwärtigen Terrasse oberhalb vom Joshua-Fluss. Sie war sehr zufrieden darüber,
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