Haus der Angst
Abschürfungen beachtete sie nicht. Anschließend behandelte sie die Verletzungen mit dem Antibiotikum. Die Wunde über seinem Auge musste verbunden werden. Sie ging so vorsichtig wie möglich vor und berührte ihn nur dort, wo es absolut notwendig war.
Als sie fertig war, öffnete er ein Auge. „Schwester Lucy.“
„Du bist wach?“
„Ich habe mir gedacht, es ist für uns beide einfacher, wenn ich so tue, als ob ich schlafe. Du bist nicht so nervös, und ich muss hier nicht so lange rumliegen.“
Ihre Haltung wurde starr. „Du machst mich nicht nervös, Redwing.“
Das erheiterte ihn. „Ach so.“
„Ich sehe, dass der Sturz dem Esel in dir nichts anhaben konnte.“ Sie erhob sich. „Soll ich dir ein paar Schmerztabletten geben, oder bevorzugst du die Macho-Tour mit Märtyrer-Appeal?“
„Zeig mir die Schachtel. Ich will wissen, ob es wirklich nur Schmerztabletten sind.“ Er studierte die Packung. Sie enthielt extrastarke Tabletten.
Lucy starrte ihn an. „Du denkst doch nicht etwa, dass ich dich in den Wasserfall gestoßen und mit Felsbrocken beworfen habe?“
Er gab keine Antwort. Sie sagte sich, dass es an den Schmerzen liegen musste. Sogar ein Mann, der schon aus beruflichen Gründen zynisch und paranoid geworden war, konnte doch unmöglich glauben, dass sie fähig war, jemanden zu töten.
Sie merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorüber war, setzte der Schock ein. „Glaubst du wirklich, dass das kein Unfall war?“
„Ja.“
„Aber du bist dir nicht sicher. Es hätten auch spielende Kinder sein können, oder ein plötzlicher Erdrutsch …“
„Möglich.“
Lucy spürte, dass er nicht daran glaubte. Wie denn auch? Sein Leben und seine Arbeit hatten ihn so geprägt, dass er immer mit dem Schlimmsten rechnete. „Meinst du, dass derjenige, der das getan hat, dich umbringen wollte?“
„Ich glaube nicht, dass das eine Rolle gespielt hat.“
Seine Augen fielen zu. Entweder war er schon eingeschlafen oder einfach nur zu müde, um weiterzusprechen. Lucy blieb neben dem Bett stehen. Seine Verletzungen begannen sich zu verfärben oder anzuschwellen, aber keine sah wirklich Besorgnis erregend aus. Jetzt war er nicht mehr in der Lage, sie daran zu hindern, die Polizei anzurufen.
Sie stellte den Ventilator an, ging hinaus in den Flur und schloss die Schlafzimmertür. Dann blieb sie stehen, um sicherzugehen, dass sie kein Geräusch hörte. Wenn er jetzt noch einmal aufstehen und zusammenbrechen würde, müsste sie ihn auf dem Boden liegen lassen. Sie hatte nicht mehr genügend Kraft, um ihn wieder ins Bett zu hieven.
Lucy biss sich auf die Lippen. Ihr wurde heiß, als sie sich an den leidenschaftlichen Kuss vom vergangenen Abend erinnerte. Nun gut, das war vorbei. Heute Abend konnte der Mann ja nicht einmal aufrecht stehen.
Sie ging nach oben. Madison und J. T. hatten das Bett im Gästezimmer zurechtgemacht und eine von Daisys zahlreichen Decken darauf ausgebreitet. Es war ein kleines Zimmer mit schlichten Möbeln und einem Gaubenfenster, durch das man den Vorgarten sehen konnte.
„Wie geht es Sebastian?“ wollte Madison wissen.
„Er wird’s überleben. Aber er hatte einen ziemlich üblen Sturz.“ Sie zog einen gelb gestrichenen Stuhl unter Daisys alter mechanischer Nähmaschine hervor und setzte sich hin. Ihre Beine zitterten vor Überanstrengung und Anspannung. „Madison, als du heute Nachmittag im Wald warst … hast du da jemanden gesehen?“
Madison schüttelte den Kopf. „Nein.“
Lucy schwieg. Ihr Mutterinstinkt sagte ihr, dass ihre Tochter etwas vor ihr verbarg. „Du bist ganz sicher?“
„Natürlich. Ganz bestimmt.“
„Nicht mal die Sommergäste?“
„Ich habe den Optiker in seinem Auto gesehen.“ Eines der Ferienhäuser, die weiter oben auf dem Waldweg standen, gehörte einem Optiker aus Boston. „Oder meinst du, als ich spazieren gegangen bin?“
„Genau das meine ich.“
J. T. sprang vom Bett auf. „Ich und Georgie haben gesehen, wie ein Truck auf der Straße gewendet hat.“
Lucys Blick blieb auf ihrer Tochter haften. „Sag es mir, wenn dir sonst noch etwas aufgefallen ist.“
Madison nickte. Kein Streit. Kein Sarkasmus. Sie war auch nicht ungeduldig, weil ihre Mutter sie ausfragte. Genau das erregte Lucys Verdacht.
Entweder sah sie wirklich so fix und fertig aus, dass Madison ihr eine Ruhepause gönnen wollte – oder sie sagte ihr nicht die Wahrheit.
„Hört mir mal zu“, sagte Lucy. „Alle beide. Mir
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