Haus der Angst
Vielleicht lag es an Lucy, daran, dass sie hier war. Wer weiß.
Er füllte seinen Becher und griff nach der Packung mit den extrastarken Schmerztabletten.
Lucy legte ein goldbraunes Omelett auf einen Teller. „Warum bist du nicht zur Beerdigung gekommen?“ fragte sie ruhig.
Zuerst dachte er, sie spräche von Daisy, aber als er aus seiner Gedankenwelt auftauchte, merkte er, dass sie Colin meinte. „Ich war in Bogotá. Es ging um eine Entführung.“
„Du hast nicht angerufen, nicht geschrieben, nicht einmal Blumen geschickt …“
„Hättest du dich besser gefühlt, wenn ich es getan hätte?“ Sie strich Butter auf einen Toast, ohne Sebastian anzusehen. „Darum geht es doch gar nicht.“
Er wusste, dass sie Recht hatte.
Sie stellte das Frühstück vor ihn hin, ging aus der Küche und ließ ihn mit seinem Essen allein. Und mit ihrem Laptop.
Sebastian fuhr mit einem Finger über die Tastatur und stöberte durch ihre Festplatte, während er aß. Lucy Blacker Swift ist eine viel beschäftigte Frau, stellte er fest. Ihr auf Abenteuerreisen spezialisiertes Unternehmen bot eine attraktive Mischung aus aktivem Sport, Lehrgängen und Erholung. Er rief einige Seiten von ihrer neuen Broschüre auf. Herbstliche Kanufahrten von einem Hotel zum nächsten, die wahlweise ein verlängertes Wochenende oder zwei Wochen dauerten. Kajakfahrten auf See an der Küste von Maine. Natur- und Geschichtswanderung in Neufundland. Und so weiter. Jede Reise war detailliert beschrieben, und Sebastian stellte fest, dass er noch nicht sehr viele Ecken der Welt nur zum Vergnügen besucht hatte. Entführern in Kolumbien auf der Spur zu sein war etwas anderes, als die faszinierende Kultur und atemberaubende Landschaft dieses Landes zu erkunden.
Madison ließ sich auf den Stuhl fallen, der ihm gegenüber stand. „Spionierst du meiner Mutter nach?“
Kein „Guten Morgen“. Keine höfliche Frage nach seinem Zustand. Über den Laptop warf er ihr einen Blick zu. „Ich schaue gerade nach, ob ich eine E-Mail bekommen habe.“
„Tust du nicht. Er ist doch gar nicht ans Modem angeschlossen.“
„Na gut. Ich spioniere deiner Mutter nach.“
Sie schaute ihn an. Ihr Blick verhieß nichts Gutes. „Warum?“
Dieses Mädchen war eine Pestbeule. „Du bist fünfzehn Jahre alt. Warum hast du keinen Job?“
„Hab ich wohl. Ich arbeite im Geschäft meiner Mutter.“
„Das ist kein Job. Damit hilfst du deiner Mutter.“
Sie verzog das Gesicht.
Wenn er nicht so voller Wunden und blauer Flecke gewesen wäre und gefährlich ausgesehen hätte, dann hätte sie ihm bestimmt die Meinung gesagt. Das Mädchen war clever. Er klickte Lucys Kontostand und ihr Finanzierungsprogramm, die er aufgerufen hatte, vom Bildschirm. Es war einfacher zu erklären, dass er sich ihren neuen Prospekt angesehen hatte. Vielleicht sollte er mit ihr einmal über die Schutzfunktion von Passwörtern reden.
„Ich nehme an, du kannst mich zu meinem Motel fahren“, sagte er. „Ich muss mir ein paar Sachen holen, wenn ich längere Zeit hier rumliegen muss.“
„Ich?“
„Ja, du. Du kannst doch fahren, oder?“
„Ich habe einen vorläufigen Führerschein. Ich darf nur fahren, wenn ein Erwachsener dabei ist …“
„Ich bin erwachsen.“
Ihr Mund klappte zu.
„Geh und frag deine Mutter, während ich zu Ende frühstücke.“
Das Mädchen schien sprachlos zu sein. „Meinst du das ernst?“
Er seufzte. „Sehe ich aus, als ob ich es nicht ernst meine? Gestern bin ich von einem gottverdammten Felsen gestürzt. Da bin ich wohl kaum in Stimmung, um Witze zu machen.“
Sie murmelte etwas, das so klang wie „Ich werde mal meine Mutter fragen“, und verschwand. Wenn es zu nichts führt, dann habe ich ihr damit wenigstens die Gelegenheit zu einem guten Abgang verschafft, dachte Sebastian. Kinder hatten sich in seiner Gegenwart noch nie wohl gefühlt. Er wusste selbst nicht, warum.
Ein paar Minuten später kam Madison atemlos zurück. „Mom hat Nein gesagt.“
„Warum?“
Sie zuckte mit den Schultern. Sie war sehr hübsch und sah ihrem Vater sehr ähnlich.
Sebastian grinste sie an. „Du hast es nicht auf einen Kampf ankommen lassen? Ich habe immer gedacht, dass alle Fünfzehnjährigen sich die Gelegenheit zum Autofahren nicht entgehen ließen.“
„Ich habe noch einiges zu tun“, antwortete sie rasch und lief hinaus.
Ein Teenager, der nicht Auto fahren wollte. Er musste wirklich ziemlich mies aussehen.
Wenigstens wurde sein Kopf wieder klar, wenn auch nur
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