Haus der Erinnerungen
Zitronenmarmelade auf mein Brötchen strich, betrachtete ich nachdenklich das Gesicht meiner Großmutter. Sie sah jünger aus heute morgen, ausgeruht. Und guter Stimmung.
Vielleicht war das der richtige Moment. »Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte ich, ohne sie anzusehen. »Aber kannst du mir jetzt nicht noch ein bißchen was von den Townsends erzählen?«
»Da gibt's nicht viel zu erzählen. Sie kommen ursprünglich aus London. Eine gute Familie. Soviel ich weiß, lebt ein anderer Zweig der Familie oben in Schottland.«
»Das meinte ich eigentlich nicht. Ich wollte gern mehr über meinen Urgroßvater wissen, Victor Townsend.«
Sie stellte ihre Tasse nieder und sah mich so nachdenklich an, als wäre sie dabei, eine wichtige Entscheidung zu fällen. Schließlich sagte sie bedächtig: »Andrea, es gibt gewisse Dinge, die man am besten vergißt. Du hättest gar nichts davon, wenn ich dir erzählen würde, was in diesem Haus vorgefallen ist. Das waren Dinge, über die kein anständiger Christenmensch sprechen möchte. Ich weiß von ihnen und dein Großvater auch, aber unseren Kindern haben wir nie etwas davon gesagt. William, Elsie und deine Mutter wissen nichts von der Zeit damals. Und für dich ist es das Beste, wenn du auch nichts erfährst.«
»Heißt das, daß es bei den Townsends schwarze Schafe gab?« Großmutters Blick war sehr ernst. »Wenn es nur das wäre! Ich weiß genau, was du denkst, Andrea - daß ich eine spießige alte Frau bin und mich die heutige Sittenlosigkeit schockiert. Gut, du hast recht, ich bin schockiert von der heutigen Lebensart. Aber ich weiß auch, daß sich die Zeiten nun mal ändern und daß es gewisse Dinge gibt, die man einfach akzeptieren muß. Zum Beispiel, daß junge Leute miteinander leben, ohne verheiratet zu sein. Aber es gibt auch Dinge, die zu jeder Zeit schlimm sind, gleich, in welchem Jahrhundert man ist, ja, schreckliche, unaussprechliche Dinge, Andrea. Und solche Dinge sind damals in diesem Haus vorgefallen.«
Der Ton meiner Großmutter erschreckte mich, dennoch sagte ich: »Aber ich möchte es trotzdem wissen, Großmutter.«
»Warum?«
»Weil...« Ich suchte nach einer Erklärung. Warum konnte ich die Sache nicht einfach fallenlassen und vergessen, wie sie das offensichtlich wünschte? Warum dieser Drang zu wissen? »Weil die Townsends auch meine Familie sind, genau wie du und Großvater und Elsie und William. Ich möchte euch kennenlernen, und ich möchte auch meine Vorfahren kennenlernen. Ich bin von so weit hergekommen, ich möchte etwas mit nach Hause nehmen.«
»Und was ist mit den Dobsons? Das ist meine Seite der Familie. Von denen kann ich dir erzählen.«
»Ja, von denen auch, Großmutter. Aber ich möchte alles wissen. Auch über die Townsends.«
»Ich kann nicht -«
»Ich habe keine Wurzeln, Großmutter«, unterbrach ich sie. »Meine Vergangenheit besteht aus fünfundzwanzig Jahren in Kalifornien und damit basta. Da hört sie einfach auf.
Wie ein gerissener Film. Aber das kann doch nicht alles sein.« Sie sah mich bekümmert an.
»Wenn ich eine Vergangenheit habe, dann möchte ich sie kennen - ganz! Ich möchte das Gute genauso wissen wie das Schlechte. Ich habe ein Recht darauf, finde ich.«
Über den kleinen Tisch hinweg starrten wir einander an, und meine Worte dröhnten mir in den Ohren. Was um alles in der Welt redete ich da? Nie zuvor hatte mich die Vergangenheit gekümmert. Nie zuvor hatte es mich interessiert, woher ich gekommen war, was für ein Erbe ich in mir trug. Bis zu diesem Moment waren mir sogar die lebenden Verwandten gleichgültig gewesen. Woher kam dieser plötzliche Drang zu wissen? Wozu sollte er gut sein?
Es ist dieses Haus, dachte ich.
»Natürlich hast du ein Recht, alles zu wissen, Kind, aber...« Ich beobachtete aufmerksam ihr Gesicht. Es spiegelte deutlich, was in ihr vorging: den Widerwillen, von der Vergangenheit zu sprechen, den Abscheu über das, was sie wußte, den inneren Zwiespalt, ob sie sprechen oder schweigen sollte. Schließlich sagte sie seufzend: »Also gut, Kind. Ich sag dir, was du wissen möchtest.«
Wir standen vom Tisch auf und setzten uns an den Kamin. Ich drängte sie nicht. Sie brauchte Zeit und Mut. Ich wartete schweigend.
»Alles, was ich weiß«, sagte sie schließlich, »weiß ich von Robert, deinem Großvater.
Als ich ihn vor zweiundsechzig Jahren heiratete, lebte er allein in diesem Haus. Er war der einzige Überlebende der Familie, die seit dem Jahr 1880 in diesem Haus gelebt hatte.
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