Haus der Erinnerungen
noch hatte er mir nichts bedeutet; heute wußte ich vielleicht mehr über ihn als seine eigenen Kinder. Aus diesem Grund fühlte ich mich ihm in gewisser Weise verbunden; das Wissen über Victor Townsend war das Band zwischen uns.
Wir saßen wie am Tag zuvor auf den hölzernen Klappstühlen rund um das Bett. Mein Großvater war wach und lag hoch in den Kissen. Aber wenn auch seine Augen geöffnet waren, hatte ich doch den Eindruck, daß er uns gar nicht sah. Sein Blick war stumpf und leer.
»Hallo, Dad«, sagte Elsie, während sie die Pralinenschachtel aus der Cellophanhülle schälte. »Schau, ich hab dir Pralinen mitgebracht.“
Mein Großvater verzog die Lippen, als wollte er lächeln. »Möchtest du eine?« fragte sie neckend.
Mein Großvater reagierte nicht. Der Mund blieb verzogen, und ich war mir nicht mehr sicher, ob er wirklich lächelte oder ob dies vielleicht eine Grimasse des Schmerzes war. Elsie schob ihm eine Praline in den eingefallenen Mund, und er begann sofort zu saugen.
Letzendlich sind wir wohl alle auf die elementaren Instinkte reduziert, mit denen wir geboren werden.
Es war, als hätte der Kreis sich geschlossen, als wäre mein Großvater wieder zum Säugling geworden.
»Sieh mal, wen wir mitgebracht haben.« Elsies Stimme schallte durch den ganzen Saal. »Andrea! Sie ist extra aus Amerika gekommen. Du hast sie gestern verpaßt, weil du geschlafen hast, als wir hier waren.«
Sein leerer Blick blieb weiter auf Elsie gerichtet, aber dann, als wäre die Neuigkeit plötzlich zu ihm durchgedrungen, wandte er mir sein Gesicht zu. Er lächelte mich an, während er an seiner Praline lutschte, aber dann verfinsterten sich seine Züge schlagartig, und er hörte auf zu suckeln. Mir lief es eiskalt über den Rücken.
Der Ausdruck auf dem Gesicht meines Großvaters war erschreckend. Wer hätte es für möglich gehalten, daß ein so freundliches, infantiles Gesicht solchen Zorn zeigen konnte.
Oder war es vielleicht Haß?
»Du bist heute anscheinend nicht gut aufgelegt, Dad«, bemerkte Elsie und griff in die Pralinenschachtel, um ihm noch ein Stück in den Mund zu schieben.
Mit einer so schnellen Bewegung jedoch, daß keiner von uns sie kommen sah, schlug mein Großvater Elsies Hand weg. »Aber Dad!«
Sein Gesicht blieb bitterböse, und die wolkigen Augen, die nichts zu sehen schienen, hielten mich fest.
»Was ist nur in ihn gefahren?« fragte Elsie. »So hab ich ihn noch nie erlebt.«
»Er hält Andrea wahrscheinlich für jemand anderen«, meinte Ed, hob die Praline vom Boden auf, wischte sie ab und schob sie selbst in den Mund.
Ich saß wie erstarrt und versuchte, dem feindseligen Blick meines Großvaters standzuhalten. Erst nach einigen Sekunden gelang es mir, meine Bestürzung abzuschütteln und zu sagen: »Hallo Großvater, du weißt doch, daß ich es bin, nicht wahr? Andrea!« Einen Moment noch blieb der finstere Ausdruck, dann löste er sich, und das Gesicht meines Großvaters entspannte sich wieder. »Ruth?« Stieß er mit zitterndem Kinn und gespitzten Lippen mühsam hervor. »Ach Gott!« rief Elsie. »Er hält dich für deine Mutter.« Dann beugte sie sich über das Bett und sagte laut: »Nicht Ruth, Dad. Das ist Andrea. Deine Enkelin.«
Das Lächeln kehrte zurück. »Ruth! Du bist also wiedergekommen?«
»Dad -«
»Laß doch, Tante Elsie. Für ihn ist Andrea sicher immer noch zwei Jahre alt. Laß ihn doch in dem Glauben, daß ich seine Tochter bin. Schau, wie er lächelt.«
Ich ließ mir nichts davon merken, wie sehr mir diese Szene ans Herz ging. Ich konnte es selbst nicht fassen, daß dieser Mann so starke Gefühle in mir weckte. Ich blickte in sein altes, verbrauchtes Gesicht und dachte an das schreckliche Stigma, mit dem er hatte leben müssen, das Wissen über die Umstände seiner Zeugung und die Angst, daß das böse Erbe Victor Townsends in einem seiner Kinder oder Enkelkinder wiederkehren würde. »Alles ist gut, Großvater«, sagte ich beschwichtigend und tätschelte ihm die Hand. »Es ist alles gut.«
Onkel William wohnte in einem Teil von Warrington namens Padgate. Sein hübsches, modernes Haus stand in einem gepflegten Garten und hatte natürlich, das war das beste, Zentralheizung.
Er selbst, ein großer, kräftiger Mann, korpulent und rotgesichtig, empfing mich mit stürmischer Herzlichkeit. Ohne viel Federlesens nahm er mich in die Arme, küßte mich auf beide Wangen und redete beinahe ebenso viel wie Elsie. May, seine Frau, stämmig wie er, war schlicht
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