Haus der Erinnerungen
gekleidet und trug das graue Haar kurz, weil das am praktischsten war, wie sie sagte. Einfache Menschen, bescheiden und ohne große Ansprüche.
»Andrea! Wie schön!« rief May, als ich in die Küche bugsiert wurde, wo sie am Herd stand. »Du bist gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«
Wir lachten alle, schälten uns dann aus unseren warmen Sachen und setzten uns ins Wohnzimmer, das weit moderner eingerichtet war als das meiner Großmutter.
»Wie war Dad heute?« fragte William mit vollem Mund, während wir bei Tee und Kuchen saßen.
»Er hat aufgesessen und richtig mit uns geredet, stimmt's, Ed? Und dazu hat er fast eine ganze Schachtel Pralinen vertilgt.«
»Na also! Ich wette, in ein paar Wochen ist er wieder zu Hause. Er brauchte nur ein bißchen Ruhe und Pflege.« William schob ein Törtchen in den Mund, und ich dachte, was für ein gemütlicher, Wohlbehagen ausstrahlender Mann er sei, der Bruder meiner Mutter.
Eine Weile drehte sich das Gespräch um meinen Großvater, dann kam die Fußoperation meiner Mutter an die Reihe, und schließlich wandte man sich, es war unvermeidlich, der Vergangenheit zu. Während William und Elsie in Erinnerungen an die Zeit mit meiner Mutter schwelgten, griff Edouard zur Times, May ging wieder in die Küche, und ich begnügte mich damit, zuzuhören und zu beobachten.
Es war sehr warm in Williams Haus, ganz anders als bei meiner Großmutter. Hier konnte man aus dem Zimmer gehen, ohne im Flur einen Kälteschock zu bekommen. Ich streifte meine Schuhe ab, zog die Beine hoch und machte es mir in meinem Sessel bequem.
Während ich mit halbem Ohr den Gesprächen lauschte, begannen meine Gedanken zu wandern. Ich versuchte nicht, sie zu kontrollieren, sondern ließ sie und die Bilder, die sie mitbrachten, frei durch mich hindurchziehen. Ich sah das Haus in der George Street und dachte flüchtig, wie harmlos es erschien, wenn ich fern von ihm war, wie albern die unheimliche Stimmung, die mich jedes Mal befiel, wenn ich über seine Schwelle trat. Ich dachte über den schlimmen Traum der vergangenen Nacht nach, wie real Angst und Entsetzen da gewesen waren und wie fern und unwirklich sie jetzt schienen. Ich erinnerte mich an den Jungen, der mich durchs Fenster angestarrt hatte, sah wieder sein unverhohlen neugieriges Gesicht vor mir. Zuletzt dachte ich an meinen Großvater und durchlebte noch einmal die erschreckenden Sekunden, als er mich mit finsterem Blick angestarrt hatte. Und ich fragte mich, was er gesehen hatte, als er mich angeblickt hatte. »Andrea!«
»Ja?«
»Sie hat vor sich hin geduselt. Sie ist wohl todmüde.«
»Nein, ich habe nicht -«
»Es ist richtig schön, dich wieder hier zu haben«, sagte William. »Es ist schade, daß deine Mutter nicht auch kommen konnte, aber wenigstens bist du da. Hoffentlich bleibst du noch eine Weile. Läßt sich das mit deiner Arbeit vereinbaren?« Ich versuchte, mir den Börsenmakler vorzustellen, für den ich arbeitete, aber ich konnte mir sein Gesicht nicht ins Gedächtnis rufen. »Ich hatte noch vier Wochen Urlaub, aber wie lange ich hier bleibe, weiß ich noch nicht.« Ich dachte an Doug, aber auch sein Gesicht blieb merkwürdigerweise im Dunkeln. Etwas später setzten wir uns alle zum Essen in die Küche. Zum Kalbsbraten mit Gemüse tischte William einen spanischen Rotwein auf und hielt dann eine kurze Rede zu meinem Empfang. »Und am Wochenende«, rief Elsie, als er zum Schluß gekommen war,
»fahren wir alle zu Albert nach Morecambe Bay. Wir müssen doch das Kleine bewundern.«
Sie unterhielten sich ausgiebig über das geplante Familientreffen am kommenden Sonntag, erzählten mir von Albert und Christine, meinem Vetter und meiner Cousine, die ich dort kennenlernen würde, und waren sich einig darin, daß es Großmutter, die kaum je das Haus verließ, guttun würde, wieder einmal hinauszukommen. Und ich dachte dabei, daß es bestimmt auch mir guttun würde, eine Weile der bedrückenden Atmosphäre des Hauses in der George Street zu entkommen.
William wandte sich mir zu und sagte: »Na, Andrea, wie gefällt dir das Leben in Mutters Iglu?« Alle lachten. »Kannst du ihr nicht einen elektrischen Heizofen rüberbringen, William?« fragte May. »Andrea muß sich doch in dem vorderen Schlafzimmer zu Tode frieren.«
»Nein«, sagte ich und war selbst überrascht. »Ich meine, mir fehlt nichts. Wirklich nicht. Mit meiner Wärmflasche und den dicken Decken fühle ich mich ganz wohl. Wirklich!«
Was redete ich da!
Weitere Kostenlose Bücher