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Haus der Erinnerungen

Haus der Erinnerungen

Titel: Haus der Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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nichts, Tante Elsie. Ich dachte nur - er hätte vielleicht Mutters Namen erwähnt. Oder mit ihr gesprochen, weil er glaubte, sie sei hier. Dann hätte ich ihr vielleicht etwas von ihm ausrichten können, wenn ich wieder zu Hause bin.«
    »Nein, mit Frauen spricht er nie«, warf die Schwester ein. »Einen Frauennamen hab ich nie von ihm gehört. Er spricht immer nur mit einem Mann.«
    »Und hat er nie einen Namen genannt?« fragte ich wieder. »Da muß ich erst mal überlegen. Er führt richtige Gespräche, wissen Sie. Meistens dreht sich's um Pferderennen. Er bildet sich ein, daß er eine Wette placiert, verstehen Sie. Oder er bestellt ein Glas Bier. Aber Namen - warten Sie mal.« Sie rieb sich nachdenklich die Wange.
    Ich rutschte gespannt bis zur äußersten Stuhlkante. Endlich schnalzte sie mit dem Finger und sagte: »Ja, an einen erinnere ich mich. Erst neulich abend hat er ihn genannt. Und gestern abend auch wieder. Er redete mit einem Victor. Ja, genau. Victor.«
    Ich rutschte auf meinem Stuhl wieder nach hinten. »Victor!« wiederholte Elsie.
    »Großvater hat nie einen Victor gekannt. Das muß er sich ausgedacht haben.«
    »Sicher«, meinte die Schwester und machte Anstalten zu gehen. »Das tun sie hier fast alle. Erfinden sich unsichtbare Besucher.« Während sie zum nächsten Bett trat und sich über den dort liegenden Patienten beugte, starrte ich auf ihren kräftigen Rücken und dachte, er hat Victor auch gesehen.

    6

    Der Abend war endlos. Ich wurde von einer Ungeduld gequält, die ich mir nicht erklären konnte. Es war, als hätte sich alles Erleben des Tages in mir gestaut und drängte zu einer Explosion, die ich fürchtete. Den ganzen Tag hatte mich die schattenhafte Erinnerung an den Traum von dem alten Kleiderschrank verfolgt; der Zwischenfall mit dem Brandy, den ich gern als trivial und bedeutungslos abgetan hätte, war mir immer wieder durch den Kopf gegangen, nagende Erinnerung, daß ich einen Moment lang zwischen die Zeiten geraten war.
    Und dann hatte ich auch noch hören müssen, daß mein Großvater Abend für Abend mit seinem Vater sprach. Diese Neuigkeit hatte vielleicht den beunruhigendsten Eindruck hinterlassen.
    Während ich jetzt am Kamin saß und dem Klappern der Stricknadeln in den Händen meiner Großmutter zuhörte, rief ich mir das Gespräch im Wagen auf der Heimfahrt ins Gedächtnis. »Da scheint Dad sich tatsächlich eine Person ausgedacht zu haben, die ihn regelmäßig abends besucht«, hatte Elsie zu Ed und mir gesagt. »Wie die Kinder, die sich einen unsichtbaren Spielgefährten erfinden.«
    »Ich glaube nicht, daß die Person erfunden ist, Tante Elsie«, hatte ich widersprochen.
    »Wieso? Wie meinst du das?«
    »Ich glaube, Großvater hat vielleicht die Vorstellung, daß sein Vater ihn besucht.«
    »Sein Vater?« Elsie riß die Augen auf. »Du lieber Gott! Ich glaube, du hast recht, Andrea. Hieß Dads Vater nicht Victor? Victor Townsend, natürlich, ich erinnere mich.« Sie drehte sich nach mir um. »Aber Dad hat seinen Vater nie gekannt, Andrea. Soviel ich weiß, ließ er seine Frau sitzen und verschwand, ehe Dad geboren wurde.«
    Ich zuckte nur die Achseln. Der kleine Wagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster, und ich starrte zum Fenster hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. »Vielleicht hat er ihm einen Körper und ein Gesicht gegeben, um mit ihm sprechen zu können«, sagte ich. Meine Vermutung überzeugte Elsie, doch, mich überzeugte sie nicht. Eingedenk meiner seltsamen Erlebnisse in den vergangenen drei Tagen konnte ich den Gedanken, daß mein Großvater seinen Vater vielleicht wirklich gesehen hatte, nicht von der Hand weisen.
    Das war das Beunruhigende. So einfach war es heute morgen auf dem Newfeld Heath gewesen, über meine ›Träume‹ zu lachen, das Melodram der vergangenen Nacht als Hirngespinst abzutun, Ausgeburt einer durch Zeitverschiebung und Kulturschock überreizten Phantasie, daß der Gedanke, meine ersten Ahnungen könnten vielleicht doch richtig gewesen sein, ich könnte tatsächlich einen Blick in die Vergangenheit getan haben, nun um so alarmierender war.
    Nach dem Abendessen hatte Großmutter ihr Strickzeug herausgeholt, und ich hatte mich mit Block und Kugelschreiber ans Gasfeuer gesetzt, um nach Hause zu schreiben. Aber ich hatte mich nicht konzentrieren können; unaufhörlich kreisten meine Gedanken um das Geheimnis dieses alten Hauses und um die Frage, ob in dieser Nacht wieder etwas geschehen würde. Gegen neun war ich so rastlos, daß ich kaum

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