Haus der Erinnerungen
noch ruhig sitzen konnte. »Weißt du nicht ein paar lustige Geschichten, Andrea?« fragte Großmutter unerwartet.
Ich sah von meinem leeren Block auf. »Wie meinst du das?«
»Na, du weißt schon, etwas zum Lachen. Witze.« Sie hob den Kopf und sah mich über die Ränder ihrer Brillengläser an, ohne zu stricken aufzuhören. »Weißt du nicht ein paar gute Witze?«
»Ach so - hm...« Ich überlegte. »So auf Anhieb fällt mir nichts ein...«
»So geht's mir auch immer. Ich kann mir wirklich keinen Witz merken. Kaum höre ich ihn, schon hab ich ihn vergessen.« Sie senkte den Blick wieder auf ihr Strickzeug. »Dein Onkel William, der konnte immer herrlich Witze erzählen, schon als kleiner Junge. Er muß das von meiner Familie haben. Ich glaub, bei den Townsends war's mit dem Humor nicht so weit her. Wie soll man auch lachen, wenn man ständig unglücklich ist?« Meine Gedanken wären gern ihre eigenen Wege gegangen, und es kostete mich Anstrengung, Großmutter und der Gegenwart meine Aufmerksamkeit zu geben. Sie sprach langsam, im Takt mit dem gleichmäßigen Klappern ihrer Nadeln. Ihre Hände bewegten sich flink, hielten nur gelegentlich inne, wenn sie etwas mehr Wolle vom Knäuel zog.
»Deine Mutter schrieb mir oft, dein Bruder hätte den Humor der Dobsons mitbekommen. So Familienähnlichkeiten sind schon was Eigenartiges, nicht? Du brauchst dich nur selber anzuschauen, Andrea. Du bist deinem Großvater fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Natürlich kannst du das jetzt nicht mehr erkennen, weil er so alt ist. Aber als er ein junger Mann war... Also, ich hab gleich gesehen, daß du ihm nachgerätst. Dem Aussehen nach bist du eine richtige Townsend.«
Während sie sprach, sah ich zur Uhr auf dem Kaminsims. Sie tickte nicht mehr. Ich saß wie erstarrt, die Finger so fest in die Armlehnen des Sessels gedrückt, daß sie mir wehtaten. »Ein Glück, daß du nur das Aussehen von den Townsends geerbt hast«, fuhr Großmutter fort.
Ihre Stimme klang plötzlich gedämpft, wie durch Watte. Obwohl ich mich an die Sessellehnen klammerte, spürte ich, wie das Zimmer schwankte und sich um mich zu drehen begann. Großmutter verschwamm vor meinem Blick. Ihre Stimme wurde immer schwächer, und bald konnte ich nur noch die Bewegungen ihrer Lippen sehen, ohne zu hören, was sie sprach. Ein kalter Lufthauch wehte ins Zimmer, Schatten tanzten an den Wänden. Ich starrte ungläubig meine Großmutter an, die ruhig in ihrem Sessel saß und schwatzte und strickte, während das ganze Zimmer in wilder Bewegung war und immer kälter wurde.
Der kalte Wind blies heftiger. Ich sah jetzt unbestimmte Gestalten aus den Wänden hervortreten. Sie umkreisten mich, kamen und gingen wie die Figuren eines Karussells. Sie wurden groß und schrumpften wieder, sie drängten zu mir und zogen sich wieder zurück, und die ganze Zeit drehte sich das Wohnzimmer schwankend um mich wie in einem verrückten Tanz. Ich sah mich im Sog eines gewaltigen Strudels, der mich immer tiefer in sich hineinzog.
Der Schweiß brach mir aus allen Poren, Schwindel und Übelkeit überwältigten mich. Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an den Sessel, und dennoch fiel ich taumelnd immer tiefer, hinunter in den Abgrund. Die dunklen Gestalten drängten sich dichter um mich, umringten wie wartend meinen Sessel, während die Gefühle von Schwindel und Übelkeit immer stärker wurden. Ich wollte sprechen, nach meiner Großmutter rufen, aber sie war jetzt weit weg von mir -eine winzige Frauengestalt, die am anderen Ende dieses ungeheuer großen Raums in einem winzigen Sessel saß und strickte. Ich wußte, daß sie mich nicht hören würde.
Als die Schatten schließlich so nahe waren, daß ich glaubte, sie würden mich berührten, verschmolzen sie alle zu undurchdringlicher Schwärze, die sich wie ein erstickendes Tuch über mich legte.
Als ich die Augen öffnete, sah ich als erstes, daß das Zimmer ruhig geworden war. Der wilde Tanz hatte aufgehört. Blinzelnd sah ich mich um. Alles war so wie immer, nichts hatte sich verändert. Mir gegenüber saß meine Großmutter, strickend und schwatzend. Neben uns war das Gasfeuer im offenen Kamin. Und auf dem Sims tickte die Uhr. Es war gerade fünf Minuten nach neun. »Habt ihr auch etwas davon mitbekommen?« fragte meine Großmutter, ohne aufzublicken.
»Ich - wovon?« Ich wischte mir mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Mein T-Shirt war feucht.
»Von den Jubiläumsfeierlichkeiten für die Königin. Haben sie die bei euch
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