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Haus der Lügen - 8

Haus der Lügen - 8

Titel: Haus der Lügen - 8 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Weber
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Büroangestellten der Gegend mit Essbarem. Häufig wehte der Wind den betörenden Duft der einen oder anderen Mahlzeit geradewegs durch Wylsynns offenes Fenster.
    Doch Wylsynn bemerkte nichts davon. Er hatte keinen Blick für das Spiel aus gleißendem Licht und tiefem Schatten, das die Sonne zauberte. Er hörte nicht die Stimmen der Händler. Auch die Fußgänger, die an seinem Dienstsitz vorbeigingen, bemerkte er nicht. Nein, seine Aufmerksamkeit galt etwas völlig anderem. Er konzentrierte sich ganz auf den Inhalt des Briefes, der zusammengefaltet vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Wylsynn erinnerte sich an jedes einzelne Wort.
    Also ist es jetzt doch passiert . Er spürte, wie ihm erneut Tränen in die Augen stiegen. Nach all den Jahren.
    Er wusste nicht, auf welch verschlungenen Wegen der Brief zu ihm hatte gelangen können. Oh, er hätte ihn sicherlich zurückverfolgen können, wenigstens bis zu den letzten zwei oder drei Dutzend Händen, durch die er gegangen sein musste. Doch danach würde sich die Spur völlig verlieren, der ursprüngliche Absender in einem Mantel aus Anonymität Schutz finden. Darüber war Paityr Wylsynn wirklich froh.
    Er lehnte den Kopf gegen die hohe Lehne seines Sessels, schloss die Augen. Er dachte daran, wie sein beruflicher Weg ihn Schritt für Schritt in dieses Arbeitszimmer geführt hatte. Er dachte daran, wie er sich zum Priester berufen gefühlt hatte. Er dachte daran, wie er, in den Schueler-Orden eingetreten war, genau wie sein Vater vor ihm. Denn das tat ein Wylsynn nun einmal. Mit seinem Vater teilte Wylsynn auch die Ansichten, in welcher Weise der Orden umgestaltet werden müsse, damit er nicht das bliebe, wozu er verkommen war. Wylsynn dachte an den Tag, an dem sein Vater ihn dazu gedrängt hatte, den Posten als Erzbischof Erayk Dynnys’ Intendant anzutreten.
    Clyntahn sei wie besessen von den Charisianern, hatte sein Vater ihm sehr ernsthaft erklärt. Hier hatte nicht nur ein Vater zu seinem Sohn gesprochen, sondern auch ein Vikar zu einem jungen Priester, dem er voll und ganz vertraute. »Dringend gebraucht wird ein ehrlicher, aufrichtiger Intendant – jemand, der sorgsam über die Einhaltung der Ächtungen wacht, nicht jemanden, der nur Clyntahns Paranoia schürt. Und um ganz ehrlich zu sein«, endlich war sein Vater zum Kern der Sache gekommen, »möchte ich, dass du Zion verlässt. Die Richtung, in die sich die Dinge hier entwickeln, behagt mir ganz und gar nicht. Mein Seelenfrieden ist ansonsten in Gefahr, denn du hast dich schon ein bisschen arg weit aus dem Fenster gelehnt.«
    Paityr hatte fragend die Augenbrauen gewölbt, und sein Vater hatte ein raues Schnauben ausgestoßen.
    »Ach, ich weiß, ich weiß! Ein Esel schilt den anderen ... und so weiter, und so weiter! Aber mich schützt mein Rang. Ich bin ranghoher Vikar, nicht bloß kleiner Oberpriester. Außerdem ...«
    Er hatte noch etwas anderes sagen wollen. Doch dann hatte er es sich anders überlegt und nur den Kopf geschüttelt. Doch Paityr hatte verstanden – auch das, was sein Vater unausgesprochen gelassen hatte. Wenn Samyl Wylsynn nicht behagte, wie sich die Dinge entwickelten, dann war zumindest einer der Gründe, weswegen er Paityr nach Tellesberg schickte, dass er seinen Sohn so weit wie möglich von Zhaspahr Clyntahn entfernt wissen wollte.
    Langfristig würde es vermutlich keinen Unterschied machen, ob Clyntahn Paityr jederzeit in seine Klauen bekommen konnte oder nicht. Es gab, ehrlich gesagt, auf ganz Safehold keinen einzigen Ort, den Clyntahn nicht zu erreichen vermochte. Der Arm des Großinquisitors war ebenso lang wie der von Mutter Kirche selbst. Doch Paityr hatte sehr wohl verstanden, worauf sein Vater hinauswollte. Und so wenig ihm der Gedanke gefiel, seinen Vater und den Rest von Samyl Wylsynns Reformer-›Kreis‹ im Stich zu lassen, war ihm auch bewusst, dass sein Vater ganz Recht hatte: Die Charisianer benötigten wirklich einen ehrlichen, aufrichtigen Intendanten. Und ehrliche, aufrichtige Intendanten waren zunehmend rar gesät.
    Also hatte Paityr den Ratschlag seines Vaters beherzigt und den Posten angetreten.
    In all den Jahren seit jenem Tag war er froh darüber gewesen, dass es so gekommen war. Er verstand ganz genau, was an den Charisianer jemanden wie Clyntahn beunruhigte und erzürnte. Doch je besser Paityr sie kennen gelernt hatte, desto deutlicher sah er, wie unbegründet Clyntahns Befürchtungen waren. Vielleicht waren die Charisianer ja tatsächlich einfallsreicher, als sie

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