Haus der roten Dämonen
waren, ein Ziel zu verfolgen, durfte man nichts mehr erklären. Man musste beweisen.
Außerdem war sie es gewesen, die ihn geküsst hatte, nicht er sie. Aber auch in solchen Dingen durfte man Jungs offenbar nicht dreinreden.
All ihre Gedanken passten zwischen zwei Wimpernschläge. Sie sah Jan an, lächelte und sagte deshalb nur: »Wir laufen gerade in eine Falle.«
Jan hob die Augenbrauen. »Woher willst du das wissen?« Er musterte die Wände, spähte durch eine Fensteröffnung, die auf seiner Augenhöhe die Mauer durchbrach.
»Ich traue Kithara nicht mehr über den Weg«, erklärte Julia. »Das lief alles zu glatt. Nur der Bär stand uns im Weg und den hat er abgelenkt. Niemand verfolgt uns. Das ist doch … ungewöhnlich. Außerdem, hast du ihn beobachtet? Er verhielt sich äußerst merkwürdig.«
Sie versuchte, in kurzen Sätzen zu sprechen, doch Jan verdrehte die Augen und verzog seinen Mund.
»Unsinn!«, sagte er nur, drehte sich um und lief weiter.
»Jan!«, schrie sie ihm hinterher. »Nicht! Wir müssen vorsichtiger sein.«
Doch er horchte nicht auf sie. Julia blieb nichts weiter
übrig, als ihm hinterherzurennen. Die frei in den Turm hineinragenden Holzstufen wurden noch eine Spur schmaler, dann mündete die freie Treppe schließlich auf eine Plattform. Von hier aus führte nur noch eine Leiter zur Glockenstube hinauf. Die Seilzüge, die sie seit ihrem Einstieg in den Turm begleitet hatten, ragten durch den Raum. Es war beinahe das Bild, von dem Jaroslav erzählt hatte. Der Raum war erfüllt vom Rauschen des Regens außerhalb des Turms. Der Regen legte eine Decke aus Wasser über die Stadt und trieb die Menschen, die sich aus ihren Häusern gewagt hatten, zurück in die Stuben.
Jan hatte bereits die Leiter betreten, als Julia ihn erneut zurückhielt.
»Jan, bitte! Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich wette … ich wette um einen Kuss, dass ich recht habe!« Sie feuerte ihm diesen Satz hinterher in der Hoffnung, dass er ihn aufhalten würde.
Jan, dem die Erschöpfung des schnellen Aufstiegs ins Gesicht geschrieben war, hielt inne. Er blickte nach oben, sah zu ihr hinab – und tatsächlich stieg er die drei Sprossen wieder zu ihr zurück.
»Weil du es bist. Aber es muss ein langer sein.« Er sah sie nicht an, sondern starrte auf die Öffnung über ihm. »Was machen wir jetzt? Dort oben sitzt Messer Arcimboldo, an einen Stuhl gefesselt. Wir sollten uns nicht so viel Zeit lassen. Wenn die Bestien uns entdeckt haben, ist es vielleicht zu spät.«
Julia biss sich auf die Lippen. Einen anderen Plan hatte sie nicht. Doch die Öffnung über ihnen, die so harmlos aussah und zum Durchsteigen einlud, schien ihr nicht geheuer. Ihr Magen krampfte sich zusammen, wenn sie hochsah. Doch sosehr sie sich bemühte, ihr fiel nicht auf, was sie beunruhigte. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: »Der Uschebti! Hast du ihn noch?«
Jan kramte in seinem Wams und zog die Figur heraus. Zweifelnd blickte er von der blauen Fayence zu Julia und von Julia zu der Figur.
»Was sollen wir damit anfangen?«
Jetzt musste Julia lächeln. »Das, was Rabbi Löw gesagt hat. Stell die Figur vor die Leiter.«
Jan tat, was Julia ihm geboten hatte, wenn auch zögernd. Julia wusste genau, was er dachte: Der Uschebti – wenn er überhaupt funktionierte – war in seinen Augen zu wertvoll, um ihn jetzt zu verbrauchen. Schließlich drohte ja keine Gefahr.
Sie ließ sich auf die Knie nieder, drehte die Figur so, dass sie mit dem Gesicht zur Leiter blickte, dann beugte sie sich vor und flüsterte ihr das Zauberwort ins Ohr, das Rabbi Löw ihr verraten hatte. Rasch erhob sie sich und trat zurück. Sie stellte sich neben Jan, der ihr den Arm um die Schultern legte. Sie wusste selbst nicht, was jetzt passieren sollte, und tatsächlich geschah zuerst gar nichts.
Julia wurde unruhig, und auch Jan machte sich von ihr los und wollte zur Leiter, um sie hochzuklettern, als ein leises Sirren die Luft erfüllte. Um den Uschebti herum begann die Luft wie in der Sommerhitze zu flirren. Aus dem Fayence-Körper quoll eine feine Wolke und verdichtete sich zu einem Wesen, das aus Rauch und flimmernder Luft zu bestehen schien.
»Was wünscht Ihr?« Die Frage stand plötzlich im Raum und schien von überall her zu kommen und in ihrem Kopf regelrecht zu explodieren.
Julia fasste sich schnell. »Geh die Leiter hoch und sieh dich um!«, befahl sie.
Die Rauchgestalt zögerte kurz, dann stapfte sie los, während die Fayence-Figur am Fuß der Leiter stehen
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