Haus der Vampire 03 - Rendezvous mit einem Unbekannten-ok
gefunden hatte, und nickte ihr zu. »Mach schon«, sagte er. »Nimm es.«
»Wie bitte?«
Er machte eine Bewegung, als würde er es sich in den Mund stecken.
»Ich... ähm... was war das noch mal?«
Dieses Mal rollte Myrnin frustriert mit den Augen. »Nimm es ein, Claire! Wir haben nicht viel Zeit. Meine Phasen der Klarheit sind jetzt kürzer. Ich kann nicht garantieren, dass ich nicht wieder abgleite. Bald. Das wird helfen.«
»Das verstehe ich nicht. Wie soll dieses Zeug helfen?«
Er befahl es ihr nicht noch einmal; er flehte sie einfach nur stumm an. Sein Gesicht war aufrichtig und hoffnungsvoll und schließlich führte sie die Hand zum Mund und probierte zaghaft einen der Kristalle.
Es schmeckte wie Erdbeersalz mit einem bitteren Nachgeschmack. Augenblicklich spürte sie einen winzigen Ausbruch eiskalter Klarheit, wie ein Blinklicht, das in einem dunklen Raum voller schöner, glitzernder Sachen aufblitzt.
»Ja«, hauchte Myrnin. »Jetzt verstehst du es.«
Dieses Mal leckte sie mehr Kristalle auf. Vier oder fünf davon. Die Bitterkeit war intensiver, kaum noch mit Erdbeeren versetzt, und die Reaktion erfolgte noch schneller. Es war, als hätte sie geschlafen und wäre jetzt plötzlich wach. Herrlich und irgendwie verwirrend wach.
Die Welt war so scharf, dass es ihr schien, als könnte sie sich selbst an dem stumpfen, abgenutzten Holz des Tisches schneiden.
Myrnin hob irgendein beliebiges Buch auf und öffnete es. Er hielt es ihr hin und es war wie ein weiteres Aufleuchten von Licht in der Finsternis, glänzend und herrlich, oh, so schön, wie sich die Wörter aneinanderschmiegten und in ihr Gehirn schnitten. Es war schmerzlich und perfekt und sie las, so schnell sie konnte.
**
Die Essenz von Gold ist die Essenz der Sonne und die Essenz von Silber ist die Essenz des Mondes. Arbeite ihren Eigenschaften entsprechend mit beiden, mit Gold am Tage, mit Silber bei Nacht...
**
Es ergab einen Sinn für sie. Einen vollkommenen Sinn. Alchemie war lediglich die Erklärung eines Poeten dafür, wie Materie und Energie sich gegenseitig beeinflussten, wie unterschiedliche Oberflächen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten schwangen; es war Physik, nichts als Physik und sie konnte jetzt verstehen, wie es angewandt wurde.
Und dann... dann war ihr plötzlich, als wären alle Glühbirnen wieder gedämpft worden.
»Mach weiter, nimm es ein«, sagte Myrnin. »Die Dosis in deiner Hand reicht eine Stunde oder so. In dieser Zeit kann ich dir eine ganze Menge beibringen. Vielleicht genug, um zu wissen, in welche Richtung wir weiterdenken sollen.«
Dieses Mal zögerte Claire nicht und leckte auch noch das letzte kleine Kristallstückchen von ihrer Hand.
***
Myrnin hatte recht, die Wirkung der Kristalle dauerte etwas mehr als eine Stunde an. Er selbst nahm auch welche, immer einen nach dem anderen, wobei er sie sorgfältig portionierte, damit sie reichten, bis schließlich selbst ein roter Kristall die wachsende Verwirrung in seinen Augen nicht mehr vertreiben konnte. Zum Ende hin wurde er ängstlich. Claire begann, die Bücher zuzuklappen und auf dem Tisch zu stapeln – die beiden saßen im Schneidersitz auf dem Fußboden und waren praktisch unter Büchern begraben. Myrnin war mit ihr von einem Buch zum anderen gesprungen, ein Absatz von hier, ein Kapitel von dort, eine physikalische Tabelle und eine Seite mit etwas, das so alt war, dass er ihr erst die Sprache beibringen musste, bevor sie es verstehen konnte.
Ich habe Sprachen gelernt. Ich habe... ich habe so vieles gelernt. Er hatte ihr ein Diagramm gezeigt, das nicht einfach nur ein Diagramm war – es war dreidimensional und kompliziert wie eine Schneeflocke. Morganville war nicht einfach so entstanden; es wurde geplant. Um die Vampire herumgeplant. Von den Vampiren geplant und von Myrnin und Amelie durchgeführt. Die Häuser der Gründerin waren ein Teil davon – dreizehn intelligente, harte Knotenpunkte der Macht in einem Netz, das ein komplexes Energiemuster zusammenhielt. Es konnte Leute durch die Türen von einem Ort zum anderen bewegen, auch wenn Claire noch nicht verstanden hatte, wie diese gesteuert wurden. Aber das Netz konnte noch mehr. Es konnte Erinnerungen verändern. Es konnte sogar Leute fernhalten, wenn Amelie das wollte.
Myrnin hatte ihr auch die Protokolle all der Nachforschungen gezeigt, die er in den vergangenen siebzig Jahren über die Krankheit der Vampire durchgeführt hatte. Es war erschreckend, wie seine Notizen von makellosen
Weitere Kostenlose Bücher