Haus des Glücks
Er hatte einen Fehler begangen. Das war ihm klar, noch ehe sie etwas sagte. »Was ist damit?«
»Sagen Sie es mir, Doktor. Was steht auf dem Etikett?«
Friedrich warf einen Blick auf die Flasche, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Die Buchstaben auf dem kleinen weißen Schild verschwammen zu einer von schwarzen Strichen durchzogenen grauen Fläche. Er ahnte, wovon sie sprach, und lächelte schief. »Wenn Sie so fragen, offenbar nicht
Oleum carum carvi.
«
»Richtig. Sondern
Tinctura opii.
«
Friedrich schluckte und ihm wurde schwindelig bei dem Gedanken, was alles hätte geschehen können, wenn Herr Fahrenkron die Opiumtinktur anstatt des Kümmelöls eingenommen hätte, noch dazu in dieser hohen Dosierung. Angefangen mit einer deutlichen Verschlimmerung seiner Beschwerden, bis hin zu einem tödlichen Darmverschluss. Er rieb sich die Stirn. »Sieht aus, als wäre ich Ihnen zu Dank verpflichtet, Victoria.«
»Ja, so sieht es aus«, sagte sie ernst. »Wenigstens leugnen Sie nicht, dass Sie das Etikett nicht lesen können.«
»Sie wissen es?«
»Ich weiß es erst jetzt. Aber geahnt habe ich es schon länger. Die Art, wie sie sich in der Praxis bewegen, ihr Unmut, wenn etwas nicht am gewohnten Platz liegt. Das alles deutet auf ein schwaches Sehvermögen hin. Was ist mit Ihnen los?«
»Ich glaube nicht, dass es Sie etwas angeht«, entgegnete Friedrich schroffer als beabsichtigt.
»Wie Sie wollen, Doktor«, Victoria holte tief Luft. »Wenn Sie so wenig Vertrauen zu mir haben, werde ich meinen Dienst bei Ihnen quittieren. Ich kann es nicht verantworten, bei einem Arzt zu arbeiten, der halb blind ist und sich zudem weigert, seine Behinderung zu akzeptieren und zuzugeben. Außerdem werde ich mich an den Gouverneur wenden. Ich muss an das Wohl der Patienten denken.«
Friedrich stützte den Kopf auf seine Hand und schloss die Augen. Er hatte nie angenommen, seine Krankheit vor ihr geheim halten zu können. Allerdings hatte er gehofft, dass er sie noch länger täuschen konnte.
»Also gut. Ich …«, er brach ab. »Ich leide an einer Erkrankung der Netzhaut. Es ist eine Erbkrankheit, die meine Familie bereits seit Generationen plagt. Mein Großvater war mit siebzig blind, mein Vater mit siebenundsechzig. Ich bin jetzt dreiundfünfzig. Ich habe geglaubt, dass ich noch ein paar Jahre habe, aber offenbar ereilt es mich viel früher als meine Vorfahren.«
»Und man kann nichts dagegen tun?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist einer der Gründe, weshalb ich Medizin studiert habe, anstatt dem Wunsch meiner Eltern nachzukommen und Rechtsanwalt zu werden, wie alle Männer in meiner Familie. Ich wollte nach einem Heilmittel suchen. Aber vergeblich. Bis heute gibt es weder ein Medikament noch eine Operation, um die fortschreitende Erblindung aufzuhalten. Die Krankheit hat noch nicht einmal einen Namen. Als mir das klarwurde, habe ich Deutschland den Rücken gekehrt und bin in die Südsee gegangen. Hier ist man selbst für einen halbblinden Arzt dankbar, während ich zu Hause in Berlin vermutlich eines Tages von dem Wohlwollen meiner Familie abhängig wäre oder mittellos in einem Heim dahinvegetieren würde.«
Sie schwiegen beide. Zum Glück konnte er nicht genau erkennen, ob sie bestürzt war oder Mitleid mit ihm hatte.
»Wer weiß von Ihrer Krankheit?«
»Niemand außer Ihnen, Victoria, nicht einmal mein Freund Albert. Und ich muss Sie darauf hinweisen, dass dieses Gespräch vertraulich ist. Sie stehen unter Schweigepflicht.«
Sie sog hörbar die Luft ein. »Sie machen mich also zum Mitwisser und Helfershelfer«, sagte sie. »Und wie lange gedenken Sie noch, Ihre zunehmende Erblindung vor dem Rest der Bevölkerung geheim zu halten?«
Er zuckte mit den Schultern. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt. »Solange es eben geht.«
Victoria seufzte und setzte sich auf den Stuhl, auf dem sonst die Patienten saßen. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Ich weiß nicht, Doktor. Was Sie tun, ist gefährlich. Sie machen Fehler, wie wir heute gesehen haben, und früher oder später wird so ein Fehler schwere Konsequenzen nach sich ziehen.«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte er. »Aber zurzeit haben wir keine andere Option. Ich bin der einzige Arzt hier auf der Insel. Wir können nicht fast vierhundert Menschen ohne jede medizinische Versorgung auf einer tropischen Insel mitten im Pazifik alleinlassen.«
»Versorgt von einem Arzt, der sich seine Diagnosen ertasten muss?«
»Für die körperliche
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