Haus des Glücks
auch.
Eine genaue Diagnose zu stellen, war ihm nicht möglich. Er hätte mehr sehen müssen. Es hatte keinen Sinn. Er würde dem Gouverneur nicht helfen können. Wenigstens nicht allein. »Hören Sie, Petersen, schicken Sie sofort jemanden nach Tanugamanono, und holen Sie Victoria Seymour hierher.«
»Nein! Nicht diese Frau!« Mechthild kreischte auf, als hätte er ihr einen Pakt mit dem Teufel vorgeschlagen, um ihren Mann zu retten. Wie tief doch der Hass gehen konnte! Der Grund dafür waren seiner Ansicht nach Victorias Jugend und Schönheit, ihre gute Erziehung und Bildung, ihr gewinnendes Wesen, ihre hübschen Kinder und ihr gutaussehender Mann. Neid. Eine weitere Todsünde.
»Aber Doktor …«, widersprach Petersen.
»Der Gouverneur ist schwer verletzt. Ich muss ihn so schnell wie möglich operieren. Das kann ich aber nicht allein, ich brauche einen Assistenten. Wollen Sie, dass der Mann stirbt? Oder möchte einer von Ihnen mir bei der Operation behilflich sein?«
Mechthild schluchzte.
»Um Himmels willen, nein!« Petersen wandte sich um. »Los, Otto. Schnapp dir das Pferd und bring Frau Seymour hierher. Schnell!«
Der junge Mann grunzte und verschwand. Friedrich fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Wie lange würde Otto für den Weg ins Landesinnere brauchen? Eine Stunde? Und wenn Victoria nicht kommen wollte oder kommen konnte? Sie war hochschwanger! Dann musste er die Operation allein durchführen, sich halb blind durch den Körper des Gouverneurs wühlen und hoffen, nichts aneinanderzunähen, was nicht zusammengehörte. Wenn der Mann unter seinen Händen starb, konnte er zwar behaupten, die Verletzungen seien zu schwer gewesen, und keiner würde ihm jemals das Gegenteil nachweisen können. Allerdings kannte er selbst die Wahrheit.
Mechthild stand neben ihrem Ehemann und streichelte seine Wangen. »Warum? Warum nur?«, stammelte sie unter Tränen. »Warum wir? Warum haben sie ausgerechnet unser Haus beschossen? Wir haben ihnen doch nichts getan!«
Friedrich bezweifelte, dass irgendwer auf einem der Schiffe dort draußen genau hätte sagen können, welches Haus gerade ins Visier genommen worden war. Es waren Zufallstreffer. Ebenso hätte die Kanonenkugel die Kirche oder Petersens Geschäft treffen können. Oder seine Praxis.
Der Verletzte auf der Liege gab ein Stöhnen von sich. Friedrich ging zum Medizinschrank. Zum Glück war der Schrank immer aufgeräumt. Jede Flasche stand an ihrem Platz. Außerdem hatte sich Victoria die Mühe gemacht, alle Flaschen mit farbigen Etiketten zu versehen. Es war nicht schwer, die Opiumtinktur und den Äther zu finden. Wenigstens das konnte er für den Gouverneur tun. Wenigstens das.
Er hielt die kleine Arzneiflasche umgekehrt über ein Glas und versuchte, sich über Mechthilds Schluchzen hinweg auf das Geräusch der auf den Glasboden fallenden Tropfen zu konzentrieren. Die zunehmende Blindheit hatte sein Gehör geschärft. Und wenn er trotzdem zu viele Opiumtropfen abzählte? Dann würden sie sich die Mühe einer Operation sparen können. Er schenkte etwas Wasser nach und drückte Mechthild das Glas in die Hand. »Er soll das trinken.«
»Was ist das?«
»Glauben Sie, ich will Ihren Mann vergiften? Das ist Opiumtinktur. Gegen die Schmerzen. Flößen Sie ihm das Zeug ein, ich bereite unterdessen die Instrumente vor.«
Mechthild jammerte vor sich hin, als wäre sie die Verletzte, aber sie tat, was er ihr geheißen hatte.
Er wusch sich sorgfältig die Hände, nahm ein sauberes Leinentuch aus dem Schrank und breitete es über dem Tisch aus. Dann legte er ein Instrument nach dem anderen darauf – die Zange, das große und das kleine Skalpell, den großen Spreizer, den kleinen Spreizer, mehrere Haken, Scheren, Nadeln, Nahtmaterial. Die Maske für die Äthernarkose.
Mechthild stöhnte.
»Wollen Sie lieber draußen warten?«
»Nein, nein, ich will bei ihm bleiben«, versicherte sie. Doch im Licht der Öllampe sah selbst er, wie bleich sie geworden war.
»Ihre Entscheidung.« Friedrich zuckte mit den Schultern. Bis Otto mit Victoria zurück war, konnte sie hier im Behandlungsraum bleiben. Victoria würde sie hinauskomplimentieren. Sie war sehr gut in diesen Dingen. Hoffentlich kam sie! Er hatte die Vorbereitungen fast abgeschlossen und konnte nicht mehr lange warten, ohne dass es auffiel.
Er wusch sich abermals die Hände. Diesmal so übertrieben gründlich, dass es lächerlich hätte sein können, wenn der Grund nicht so traurig gewesen wäre.
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