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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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machten und allmählich von einer »Mobilmachung der vaterlandstreuen Zivilbevölkerung« sprachen. Es gab die Briten, Neuseeländer, Amerikaner und Franzosen, die den Deutschen die Schuld gaben. Und es gab die Einheimischen, die Samoaner, die kopfschüttelnd und hilflos zusehen mussten, wie ihr Land unter Beschuss genommen wurde, ohne dass sie die Gründe verstanden. Gestern hatte er zum ersten Mal erlebt, dass ein Brite im Hotel nicht bedient wurde. Verrückt. Alle waren sie verrückt geworden.
    Ein ohrenbetäubender Knall riss Friedrich aus seinen Gedanken. Erschrocken sprang er auf. Die Wucht der Detonation ließ den Boden erzittern, Fensterscheiben zerbarsten. Er glaubte nicht, dass die Kugel sein Haus getroffen hatte, aber sie war nicht weit von ihm eingeschlagen. Irgendeinen seiner Nachbarn hatte es erwischt. Arme Teufel. Hoffentlich war niemand verletzt. Aber es war noch früh am Morgen, und die meisten Menschen in Apia lagen gewiss noch in ihren Betten.
    Er tastete sich voran zum Fenster. Lichter tanzten auf der Straße, eine Menschenmenge hatte sich vor dem Nachbargebäude versammelt. Er konnte zwar nur Schemen erkennen, aber was er an Umrissen sah, reichte ihm – die Kanonenkugel hatte offenbar das Rathaus getroffen. Das Gebäude war halb eingestürzt. Während er noch hinsah, züngelten die ersten Flammen aus dem Dachgeschoss.
    Nicht gaffen, sondern helfen,
dachte er und machte sich auf den Weg zur Tür. Auf halber Strecke blieb er stehen.
Wie sollte
er
helfen? Er konnte doch kaum noch etwas sehen. In seinem Haus, seiner Praxis bewegte er sich sicher. Hier kannte er sich aus, jede Ecke, jede Kante. Aber da draußen? Was sollte er tun außer halb blind umherstolpern und die Rettungsarbeiten behindern?
    Die Entscheidung, wie er sich verhalten sollte, wurde ihm abgenommen, als es heftig klopfte. Jemand schien die Absicht zu haben, die Tür mit der Faust einzuschlagen.
    »Doktor! So hören Sie doch! Machen Sie auf!« Das Hämmern wurde drängender.
    Friedrich erkannte Petersens Stimme, im Hintergrund jammerte eine Frau. »Ich komme!«, rief er, zog noch im Gehen seine Hosenträger hoch und setzte seine Brille auf. Aus reiner Gewohnheit, Nutzen hatte sie schon lange nicht mehr. In der Eile vergaß er die Schritte zu zählen und prallte mit dem Knie gegen den Bücherschrank. Er stieß einen Fluch aus und humpelte weiter. Endlich hatte er die Tür erreicht und öffnete. Die Menschen vor ihm waren kaum mehr als Schemen. Jemand trug eine Öllampe, offenbar Petersen. Er erkannte den Kaufmann an seinen feuerroten Haaren. Dahinter war eine Frau. Sie krümmte sich, hielt sich die Hände vor das Gesicht. Neben ihr zwei Gestalten, eine davon groß, breit und ebenfalls rothaarig. Wahrscheinlich Petersens ältester Sohn Otto. Die beiden Männer trugen eine Art Laken oder Plane als improvisierte Trage zwischen sich.
    »Was ist los?«, fragte Friedrich. »Jemand verletzt?«
    »Jawohl, Doktor«, es war Petersen, der antwortete. »Die amerikanischen Schweine haben das Rathaus bombardiert. Es hat unseren Gouverneur erwischt.«
    Es lag ihm auf der Zunge zu fragen, wie dem Kaufmann die Unterscheidung einer amerikanischen von einer deutschen Kanonenkugel gelungen war, doch angesichts des Verletzten verkniff er sich die Bemerkung. »Bringt ihn nach hinten ins Behandlungszimmer«, sagte er stattdessen.
    Erst als sie an ihm vorbeistürmten und er das Blut sah, das durch den Stoff der behelfsmäßigen Trage sickerte, begann er nachzudenken.
Was sollte er jetzt nur tun?
    Sein Herz klopfte heftig, als er das Behandlungszimmer betrat und sich über den Mann beugte, der still und regungslos auf der Liege lag.
Vielleicht ist er bereits tot,
dachte er nicht ohne Hoffnung, wofür er sich schämte. Eitelkeit und Stolz zogen einen Menschen immer tiefer in den Sumpf der niedersten Empfindungen hinab, bis schließlich sogar Mord nicht mehr ausgeschlossen war. Kein Wunder, dass sie zu den sieben Todsünden zählten.
    Seine Fingerspitzen waren taub. Er rieb seine Hände, um das taube Gefühl zu vertreiben, und tastete nach der Halsschlagader des Gouverneurs und nach dem Brustkorb. Hastig, viel zu hastig und zu flach fühlte sich der Puls an, die Atmung war schwach, ungleichmäßig, und die rechte Thoraxseite bewegte sich nicht so, wie sie sollte. Paradoxe Atmung. Ein schlechtes Zeichen. Erst dreimal in seiner ärztlichen Laufbahn hatte er dieses Phänomen beobachtet. Keiner der Patienten hatte überlebt. Aber vielleicht irrte er sich

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