Haus des Glücks
Kampf und Schmerzen. Gestern haben wir ihn beerdigt, neben Großvater. Es war eine schöne, bewegende Feier, und viele Kollegen und auch Krankenschwestern aus dem Krankenhaus waren anwesend. Dennoch wäre ich lieber irgendwo anders gewesen als gerade auf dem Friedhof an seinem Grab. Ich will es immer noch nicht wahrhaben, daß er nicht mehr bei uns ist. Jedes Mal, wenn ich die Treppe hinuntergehe, glaube ich, ihn in der Bibliothek in seinem Lieblingssessel sitzen zu sehen. Mutter hält sich recht tapfer. Ich bin mit den Kindern bei ihr, um ihr in der ersten Zeit beizustehen, sofern das überhaupt möglich ist. Aber wenigstens können wir gemeinsam weinen!
Mutter und ich haben ein paar Sachen herausgesucht, die jeder von uns bekommt – als Andenken an unseren Vater. Paul hat Vaters Taschenuhr bekommen. Ich habe seinen Füllfederhalter – mit dem ich übrigens auch diesen Brief schreibe. Es ist ein Gefühl, als schaue er mir dabei über die Schulter. Du bekommst sein Stethoskop. Ich weiß zwar nicht, ob Du es dort auf Eurer Südseeinsel gebrauchen kannst, aber gewiß ist es das, was Dich ganz eng mit ihm verbunden hat – Eure gemeinsame Liebe zur Medizin. Ich hoffe, unsere Wahl sagt Dir zu.
Ich bin froh zu hören, daß die Kampfhandlungen vor Samoa endlich beigelegt wurden – es stand bei uns in den Zeitungen. Ich hoffe, Dir, John und den Kindern geht es gut. Wenn ich erst einmal wieder zur Besinnung gekommen bin, werde ich Dir wieder schreiben, dann hoffentlich einen Brief mit lauter guten und fröhlichen Neuigkeiten!
Meine liebste Schwester, wie sehr ich Dich vermisse, gerade jetzt, kannst Du Dir nicht vorstellen.
Es grüßt Dich und umarmt Dich aus vollem, traurigem Herzen,
Deine Johanna«
Victoria ließ den Brief sinken. Dann presste sie das Stethoskop an sich und weinte.
Durch das geöffnete Fenster war Friedrichs Stimme zu hören, das Lachen der Kinder. Wie es seine Art war, hatte er die Geschichte des Froschkönigs ein wenig verändert – zum Vergnügen der Jungs.
Leise Schritte näherten sich, das Rascheln vom Stoff eines Lava-Lava, eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter.
»Schlechte Nachrichten?«
Sie hob ihren Kopf und sah in Taisis dunkle Augen. »Mein Vater ist gestorben.«
Er ging vor ihr auf die Knie, strich ihr mit dem Handrücken leicht über die Wange und fing eine ihrer Tränen auf. Er sagte nichts. Aber Worte waren ohnehin überflüssig.
22
Frühjahr 1901
V ictoria hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen und grub ihre nackten Zehen in den weißen Sand. Am Vortag hatte es kaum geregnet, ein erstes Zeichen, dass die Regenzeit ihrem Ende entgegenging. Auf Samoa zu leben war, als hätte sie die Gelegenheit erhalten, im Garten Eden zu wohnen. Obgleich es auch in diesem Paradies Nachteile gab. Einer davon war die Regenzeit mit ihren heftigen Regengüssen, den Gewittern, den Stürmen und der schier unerträglichen Hitze, wegen der die Kleidung den ganzen Tag über feucht am Körper klebte. Doch bald begann die wirklich schöne Zeit des Jahres: Die Temperaturen sanken – nicht viel, aber so, dass es angenehm war, die Regenfälle ließen nach, die Luftfeuchtigkeit wurde erträglicher. Und gerade in diesen Tagen, an der Schwelle zur Trockenzeit, hatte sie von John geträumt. War das ein Zeichen?
Sie trat ans Ufer und ließ ihre Füße von der sanften Brandung umspülen. Das Meer lag vor ihr wie ein klarer, blauer Kristall. Ein paar Meter von ihr entfernt konnte sie einen Schwarm kleiner Fische beobachten, die sich bewegten wie ein einziges Tier, auf den Wellen tanzte eine Kokosnuss.
Drei Tage war es her, dass sie diesen Traum gehabt hatte, der sie seither beschäftigte. John war zu ihr gekommen, es war ein wunderschöner Tag. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Palmen rauschten in leichtem Wind, der wohltuende Kühlung brachte. Sie hatte sich gefreut, ihn zu sehen. »Ich muss dir das neue Haus zeigen«, hatte er gesagt, ihre Hand genommen und sie hinausgeführt. Sie waren am Strand entlanggegangen. Schließlich kamen sie zu einem Fale, das im Schatten von Palmen stand und dessen Eingang mit einem bunten Vorhang verschlossen war. John ließ sie los und ging ein paar Schritte voraus. Er schob den Stoff beiseite und trat ein. Sie folgte ihm. In der Hütte lagen herrliche Matten auf dem Boden, und es sah aus, als hätte jemand alles für eine Kava-Zeremonie vorbereitet: Eine Schüssel stand bereit, daneben die in einem Blatt eingewickelte Kava-Wurzel, ein Bastbündel,
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