Haus des Todes
er lässt das Fenster herunter. Und während er zu Katy rüberschaut, wischt er sich die Kotze vom Kinn, dann schüttelt er den Kopf und fängt an zu weinen. »Es tut mir leid«, sagt er, beugt sich zu ihr hinüber und nimmt ihre Hand. Es ist ein sauberer Schnitt, er kann den Knochen sehen, der an den Rändern allerdings gesplittert ist. Er sucht im Wagen nach etwas, um es um den Finger zu wickeln, kann jedoch nichts finden. Also schaut er im Handschuhfach nach. Ebenfalls nichts. Schließlich schneidet er mit dem Messer ein Stück von seinem Hemd ab und bindet es so fest er kann um den Stummel und die Hand.
Er will ihr nicht länger wehtun. Er hat nicht den Nerv
dazu. Aber ohne irgendeine Alternative, was soll er da tun? Sie hat einen Finger verloren, und vielleicht verliert sie noch ein paar weitere, damit eine böse Frau von dieser Welt verschwindet, das ist kein besonders hoher Preis.
Er fährt weiter, bevor ihm nach einer Minute wieder schlecht wird, und diesmal schafft er es, rechts ranzufahren. Er öffnet die Tür und beugt sich hinaus. Als er fertig ist, steigt er aus und zieht sein Hemd aus. Er knüllt es zusammen und schmeißt es auf die Straße. Dann wirft er einen Blick auf die Uhr. Es sind inzwischen fünf Minuten vergangen.
Er braucht weitere zehn Minuten, um zu dem Haus mit den Mustermöbeln und dem gefesselten Doktor zu fahren. Er parkt in der Auffahrt und trägt Katy ins Innere.
»Nur damit du weißt, dass das hier nicht bloß ein Albtraum ist, aus dem du wieder aufwachst«, sagt er zu Stanton und hebt dessen Tochter hoch, sodass er ihre Hand sehen kann. Stanton übergibt sich beinahe ins Klebeband. Und Laute, die eigentlich Wörter sein sollen, werden davon erstickt
»Das ist alles deine Schuld«, sagt Caleb. »Ganz und gar deine verdammte Schuld«, sagt er, und es ist wahr. So wahr. Er verlässt den Raum und trägt Katy in eines der anderen Schlafzimmer. Dort legt er sie vorsichtig hin, bettet ihren Kopf auf ein Kissen und deckt sie zu. Ihre Hand hat aufgehört zu bluten. Er ist froh darüber. Wenn sie aufwacht, wird sie wahrscheinlich ein paar Wochen lang ihre wirre Version des Alphabets vor sich hinsummen,
während die Leute sie anlächeln und sagen: Was für eine Schande , aber sie wird darüber hinwegkommen.
In zehn Minuten wird Theodore Tate Mrs. Whitby töten, oder auch nicht. In dem Fall wird er Katy weitere Finger abschneiden – bis dieses böse alte Miststück tot ist. Er muss. Er will nicht, aber er muss – ihm bleibt nichts anderes übrig. Mrs. Whitby muss bestraft werden. Und dann ist das hier alles zu Ende. Keine Frage, denn dann gibt es nichts mehr zu tun.
Kapitel 53
Als Erstes gehe ich ins Schlafzimmer und hole mein Handy. Ich rufe Schroders Nummer auf, doch ich wähle nicht. Darf ich Mrs. Whitby töten, um das Leben eines fünfjährigen Mädchens zu retten? Es ist eine einfache Frage. Ja oder nein.
Falls ja, wie soll ich es tun?
Falls nicht, kann ich dann damit leben, dass Cole das Mädchen tötet?
Ich setze mich im Wohnzimmer auf den Platz von eben und starre über den Tisch auf den Finger, der sich jetzt nicht mehr an Katy Stantons Hand befindet. Cole ist fort, meine Kopfschmerzen ebenfalls, und ich tue das, wozu Cole mich zwingt: Ich frage mich, was das geringere der beiden Übel ist. Ich frage mich, ob ich Mrs. Whitby töten kann, um Katy Stanton das Leben zu retten. In einer rationalen Welt wäre das eine einfache Rechnung.
Man würde die ältere, böse Frau opfern, um das unschuldige, kleine Mädchen zu retten. Mrs. Whitby hat ihren Sohn beinahe zu Tode geprügelt. Sie hat seine Brust und seine Beine mit einem Bügeleisen entstellt. Sie hat auf seinen Armen Zigaretten ausgedrückt und ihn mehrere Tage lang im Wandschrank eingesperrt. Sie hat einen Mörder aus ihm gemacht. Es ist also eigentlich eine einfache Rechnung, zumindest auf dem Papier.
Aber das hier ist nicht auf dem Papier. Das hier ist die Realität, und da kann man ein Menschenleben nicht gegen ein anderes eintauschen. Und selbst wenn man es könnte, würde die Person, die das tut, in den Knast wandern.
Ich rufe erneut Schroders Nummer auf.
Doch statt zu wählen, lege ich das Handy auf den Tisch. Dann gehe ich in die Küche, wo auf der Arbeitsfläche immer noch die Krümel liegen. Ich drehe den Hahn auf, fülle meine Hände mit Wasser und bespritze damit mein Gesicht. Meine Augen öffnen sich etwas mehr, doch mein Hirn ist immer noch genauso benebelt wie vorher. Ob ich nun müde oder munter bin
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